Wo ist der kaspische Tiger geblieben, und was wurde aus der Südseeinsel Tuanaki? Judith Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“ ist ein wundervolles Gesamtkunstwerk, eine Totenklage über das Verschwindende und eine Feier der vitalen Kraft des Erzählens.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Alles ist hier gediegen, der Einband, das Papier, die Typografie. Gediegen ist das Gegenteil von aus den Fugen. Wenn man nun davon ausgeht, dass die natürliche Entwicklung dazu tendiert, alles Gediegene früher oder später in das aus den Fugen Geratene zu verwandeln, hat man beisammen, worauf Judith Schalanskys mit ihrem „Verzeichnis einiger Verluste“ reagiert: Auf das – schwindende – Bewusstsein, dass Schönheit immer als Verhältnis von Form und Inhalt zu fassen ist. Und auf die skandalöse Erfahrung, die Friedrich Schiller in seiner „Nänie“ formuliert: „Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.“

 

„Nänie“, wie im antiken Rom der Klagegesang hieß, der Leichenzüge begleitete, könnte man sehr frei auch mit „Verzeichnis einiger Verluste“ übersetzen. „Wie alle Bücher“, schreibt Judith Schalansky im Vorwort, „ist auch das vorliegende Buch von dem Begehren angetrieben, etwas überleben zu lassen, Vergangenes zu vergegenwärtigen, Vergessenes zu beschwören, Verstummtes zu Wort kommen zu lassen und Versäumtes zu betrauern.“ In kaum einem Bereich kommunizieren Idee und Ritus, Innen und Außen so eng miteinander wie im Totenkult. Judith Schalanskys Bücher sind sorgsam gestaltete Gesamtkunstwerke. Was hier nun zum Gegenstand ihrer bibliophilen Trauerfeierlichkeiten wird, ist das verlorene Paradies der zu Beginn des 19. Jahrhunderts versunkenen Südseeinsel Tuanaki; der Kaspische Tiger, dessen letzte Exemplare 1964 im Nordiran gesichtet wurden; oder die prächtige Villa Sacchetti des Barockbaumeisters Pietro da Cortona; 1861 wurden ihre letzten Ruinenreste abgetragen. Insgesamt zwölf Verluste aus allen Bereichen von Natur, Kunst, Geschichte – darunter Sapphos Liebeslieder, Friedrich Murnaus Film „Der Knabe in Blau“, der Ostberliner Palast der Republik. Und letzteres Beispiel zeigt, dass nicht nur das Schöne vergeht, aber dass auch das Hässliche ein Stück gelebten Lebens mit sich nimmt.

Im Schweizer Wallis begegnet sie einem Einhorn

Jedes der exakt 16 Seiten langen Kapitel wird durch eine Schwarz in Schwarz gehaltene Abbildung eröffnet und durch eine Art lexikalische „Vita“ eingeleitet. Doch so streng die Ordnung, so frei das Spiel der Ideen. Anders, als der nüchterne Titel nahe legt, ist dieses Verzeichnis ein Erzählband, der das elegische Dunkel des Verlusts mit flammender Fantasie erleuchtet. Die Vorstellungskraft stemmt sich der Furie des Verschwindens entgegen, wie der Kaspische Tiger gegen den Löwen, der im römischen Kolosseum unter dem lauten, lasterhaften Lachen Kaiser Claudius‘ auf ihn gehetzt wird; wie die Murnau-Verehrerin Greta Garbo an einem endlosen Nachmittag in Manhattan gegen das Alter; wie die Ich-Erzählerin gegen die Einfallslosigkeit – in den Klüften der Walliser Alpen, in die sie sich zurückgezogen hat, um einen Naturführer über Monster zu schreiben, wird sie dafür mit der Begegnung mit einem Einhorn belohnt.

Mit wuchernder Erfindungslust umrankt jeder dieser Texte auf eigene Weise die Leerstelle, die sein Gegenstand hinterlassen hat. Wissenschaftliche Präzision begegnet historischer Einfühlung, Philologie wandelt sich in der Entzifferung von Sapphos Fragmenten zur Gespielin der Homophilie – „in deutschen Wörterbüchern steht ,lesbisch‘ gleich nach ,lesbar‘“. Und immer wieder überschreiben autobiografische Miniaturen das Verlorene. Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, wuchs in der mittlerweile ebenfalls einer vergangenen Zeitschicht zugehörigen DDR auf. Deren atmosphärische Eigenart lässt sie in einer dem verschwunden Palast der Republik gewidmeten Genreskizze aufleben: „Holger biss in die Stulle. Teewurst. Das Brot schmeckte alt.“

Auf der Suche nach Caspar David Friedrichs 1931 verbranntem Bild des Hafens von Greifswald wandert Schalansky mit der sprachlichen Palette eines Landschaftsmalers durch das Hinterland ihrer Kindheit. Die Gediegenheit ihres Periodenbaus entspricht den hohen Prinzipien des buchkünstlerischen Handwerks: „Binsengleich ragt falbes Gras aus den blassblauen Lachen. Eine Bachstelze hüpft durch das Wasser, senkt knicksend die Schwanzfedern und erhebt sich zu ihrem federnden Flug.“

Überall beginnt der Konservatismus zu sprießen

Angesichts des hohen Stils solcher Passagen sei es erlaubt, ein weiteres Mal Schiller ins Spiel zu bringen: „Der Dichter, ist entweder Natur, oder er wird sie suchen, jenes macht den naiven, dieses den sentimentalischen Dichter“. Nach dieser Klassifikation ist Schalansky die sentimentalische Dichterin par excellence. Mit ihrer zu recht vielgelobten „Naturkunden“-Reihe bei Matthes&Seitz hat sie der literarischen Suche nach der Natur den Boden bereitet. Mit dem Roman „Der Hals der Giraffe“ war Schalansky zum Lesefestival „Stuttgart liest ein Buch“ eingeladen. Auch dessen Protagonistin, die widerborstige Biologielehrerin Inge Lohmark, setzt gegen die Verödung und Verblödung ihrer Lebenswelt die ewigen Wonnen der Natur und ihrer unbestechlichen Gesetzmäßigkeiten.

Gehört dieses „Verzeichnis einiger Verluste“ nun in eine Phase, in der das schöne Buch nur noch als totgesagter Aggregatzustand von Daten gilt, eine Zeit, in der man sich andererseits die Wunden des Fortschritts leckt, in der überall der Konservatismus in allen möglichen Farben neu zu sprießen beginnt? Schalansky zeigt, dass Verluste nicht rückgängig gemacht werden können und dass poetische Praxis immer Arbeit an der Erinnerung ist. Ihre literarische Gedächtniskunst liefert keine rückwärtsgewandte Theorie, sondern, wie es sich für eine Naturkundlerin gehört, die Einsicht in das Prinzip der Schöpfung selbst.

Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste. Suhrkamp Verlag. 252 Seiten, 24 Seiten.