Sensationelle Wiederentdeckung: Susanne Kerckhoffs „Briefe aus Berlin“ von 1948 zeichnen das ungefilterte Stimmungsbild einer Gesellschaft, die sich in beispiellose Schuld verstrickt hat.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Diese Briefe erreichen uns mehr als siebzig Jahre, nachdem sie verfasst wurden. Und es ist ein Glücksfall, dass sie nicht verloren gegangen sind, sondern von einem kleinen Berliner Verlag dem Vergessen entrissen wurden, der damit seinem Namen alle Ehre macht: Das kulturelle Gedächtnis. Sie stammen aus einer Zeit, als manche intellektuellen Meinungsführer der kurz darauf gegründeten Bundesrepublik gerade dabei waren, ihre Waffen-SS-Uniformen oder NSDAP-Mitgliedschaften in den hintersten Winkeln ihres Gedächtnisses zu verräumen.

 

Abgesandt wurden sie von der Autorin und Publizistin Susanne Kerckhoff in Gestalt eines Briefromans zwei Jahre vor ihrem Freitod 1950. Und was diese „Berliner Briefe“ neben ihrer eindrucksvollen sprachlichen Kraft und ihres hohen Reflexionsniveaus so bemerkenswert macht, ist die ungeschützte Innenansicht einer Befindlichkeit, die sich noch nicht hinter dem Diskursmassiv der deutschen Vergangenheitsbewältigung verschanzt hat.

Briefromane sind ein Medium, in dem sich subjektive Erfahrung in Opposition zu einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit ausformuliert. Sie leben von Innerlichkeit und Distanz. In Susanne Kerckhoffs „Berliner Briefen“ schreibt eine junge Frau an einen jüdischen Freund in Paris, der im Exil den nationalsozialistischen Terror überlebt hat. Sie macht dabei den Prozess einer schonungslosen Selbstbefragung transparent und die tiefe Entfremdung gegenüber einer Gesellschaft, die sich in beispiellose Schuld verstrickt hat und in deren Mitte sie die Kriegsjahre verbracht hat.

Pest des Nationalsozialismus

Die Schilderungen der Briefschreiberin erheben keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Sie stehe für keine Gruppe, keine Partei, keine Kirche, keine Klasse, nicht einmal für ihre Generation – „noch niemals habe ich mich als Repräsentanten gefühlt“. Einem Lager aber gehört sie an: dem Lager „derjenigen, die sich noch in gar keiner Weise beruhigt haben – über Nationalsozialismus und Krieg, über Sozialismus und Kapitalismus, über Schuld und Sühne, über eigene Schuld und eigene Sühne, kann ich mich nicht beruhigen.“

Das Kriegsende hat die Briefschreiberin in einem westdeutschen Dorf nahe der holländischen Grenze erlebt, voller Hoffnung, „dass nach dieser Sintflut von Mord, Hass und Gier ein Stahlgewitter von Menschenliebe, Freiheit und Gerechtigkeit seine Blitze senden müsste“. Dass sich ihr auf das Kommende gerichtetes Pathos noch der dissonanten Metaphorik einer eben überwundenen Zeit verdankt, macht es nicht weniger glaubwürdig. Es ist vielmehr das Authentizitätsmerkmal der ungefilterten Innenansicht eines historischen Moments, in dem Kontinuitäten ganz anderer Art aufdringlich werden. „Der Nationalsozialismus ist eine Pest, eine Seuche, ansteckend, immer wieder in schwärenden Beulen vorbrechend “, schreibt die Beobachterin nach Paris: „Ein Großteil der Entnazifizierten atmet begeistert diese Pest ins Volk, hat sie in keiner Weise überstanden.“

Befremdet verfolgt die junge Frau, wie die Protagonisten einer neuen gerechteren Gesellschaftsordnung ausführen, was alles an taktischem Geschick bei den Nazis zu lernen wäre; hellsichtig untersucht sie den eigenen Philosemitismus auf seine antisemitischen Schatten. Und hat sie 1938 bei einem Klassentreffen bemerkt, wie die Naziterminologie den Kreis zu unterwandern begann, aus dem einige „recht wackere Nazissen“ hervorgingen, so notiert sie nun zehn Jahre später den sonderbaren Gleichmut, der „wie frisch gefallener Opportunistenschnee auf den Seelen der lieblichen Gefährtinnen“ lag. Die einstige BDM-Führerin und ärgste Antisemitin der Schule hat sich offensichtlich bestens arrangiert: „Es geht ihr glänzend – seit dem Zusammenbruch ist sie Dolmetscherin bei den Amerikanern.“

Flaschenpost aus der Vergangenheit

Bestürzt liest man heute auch die folgende Analyse: „Die große Masse der Deutschen, die alten und neuen Profaschisten, die politisch Uninteressierten, sie hören uns noch immer nicht an. Aber wir herrschen in Rundfunk und Presse. Unsere Meinung wird ihnen oktroyiert – deswegen ärgern sie sich und fühlen sich unfrei.“ Wie ein Echo aus der Tiefe des geschichtlichen Raums untermalen diese Zeilen die aktuelle Leier von Lügenpresse und Mainstreammedien.

Im Bestreben, eine neue Gesellschaft aufzubauen, „mit der unterdrückten Klasse zu kämpfen“, wird Susanne Kerckhoff, die aus einer bürgerlich-intellektuellen Westberliner Familie stammt, in der jungen DDR Kulturchefin der „Berliner Zeitung“. 1950 nimmt sie sich das Leben. Im selben Jahr erscheint Albert Camus‘ „Mythos von Sisyphos“ erstmals auf Deutsch. „Als hätte ich einen Felsblock den Berg heraufgeschoben, in mühseligen Stößen“, heißt es im letzten der „Berliner Briefe“ zwei Jahre zuvor. In Zeiten, in den vieles ins Rollen gerät, kommt diese Flaschenpost genau im richtigen Moment.