Die Historikerin Ulinka Rublack zeigt die menschliche Seite des Gelehrten: Er riskierte alles für seine Mutter.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Leonberg - Wenige wissen, dass der große Astronom und Mathematiker Johannes Kepler, in Leonberg (Kreis Böblingen) aufgewachsen, 1615 in einen großen Hexenprozess hineingezogen wurde. Angeklagt war: Keplers Mutter. Die 68-jährige Katharina Kepler wurde der Hexerei verdächtigt, weil sie mehrere Menschen krank gezaubert haben sollte, weil sie den Vogt mit einem Silberbecher bestechen wollte und weil sie den Totengräber bat, den Schädel ihres Vaters auszugraben. Sie habe daraus ein Trinkgefäß machen wollen. Die zwei letzten Vorwürfe stimmten übrigens im Kern. Als sich die Ermittlungen fünf Jahre hinzogen, sah sich Kepler genötigt, von Linz nach Hause zu kommen, um die Verteidigung der Mutter zu übernehmen. Sie war im August 1620 verhaftet worden und saß nun, permanent angekettet, in Güglingen im Gefängnis.

 

Die Historikerin Ulinka Rublack, in Tübingen geboren, aber seit mehr als 20 Jahren in Cambridge lehrend, hat dieses Buch auf Englisch geschrieben – nun ist es bei Klett-Cotta auf Deutsch erschienen. Rublack wendet zwei Techniken an, die ihr Buch zu etwas Besonderem machen. Zum einen baut sie ihr Werk wie einen Kriminalroman auf; sie verrät erst am Ende, wie der Prozess ausging. Zum anderen nutzt die Autorin die Hexenanklage, um ein ganzes Panoptikum des 17. Jahrhunderts aufzufächern und das Sittengemälde einer Gesellschaft zu zeichnen, die im beginnenden 30-jährigen Krieg ins Chaos schlitterte. Religion, Aberglaube, Politik, Medizin, Jurisprudenz und Sozialstruktur, all das spielt im Prozess eine Rolle, all das blättert Rublack in souveräner Stoffbeherrschung auf.

Besonders interessant daran ist, dass der durch und durch rationale Wissenschaftler Kepler im Hexenprozess auf das durch und durch Irrationale trifft. Beide Ebenen sind aber nicht scharf zu trennen. So werden die Juristen der Universität Tübingen mehrfach um Gutachten gebeten – sie denken überraschend fortschrittlich und halten doch die Folter für ein Mittel der Wahrheitsfindung. Dieses ebenso wissenschaftliche wie feinfühlige Buch erzählt aber auch eine Familientragödie. Keplers Bruder wandte sich aus Furcht, Ehre und Geschäft zu verlieren, von der Mutter ab. Auch Kepler setzte mit seinem Kampf um das Leben der Mutter die Karriere aufs Spiel. Dass er sich dennoch dazu entschloss, macht den großen Mathematiker am Ende zum Menschen.

Ulinka Rublack:
Der Astronom und die Hexe. Johannes Kepler und seine Zeit. Klett-Cotta, Stuttgart 2018, 409 S., Preis 26 Euro.