Schorsch Kamerun, Sänger der Punkband „Die Goldenen Zitronen“, hat einen charmanten Bildungsroman geschrieben, und er ist mit zehn Premieren im Stuttgarter Nord-Labor „Das glaubst du ja wohl selber nicht“ zu erleben. Eine Begegnung mit dem Künstler.

Bauen/Wohnen/Architektur : Nicole Golombek (golo)

Stuttgart - Es ist ein ziemliches Dilemma. Wieder einmal. Eigentlich standen ihm die Positionen der Kunstrichtung Fluxus nahe, sie aber quasi museal herzeigen oder für die Bühne wieder zu beleben? Hat er nicht gemacht, bei seinem seinen Theaterabend „Denn sie wissen nicht, was wir tun“ im Jahr 2014 im Foyer des Schauspielhauses Stuttgart. Fluxus verwandt war der Abend allerdings – in seinen Grenzüberschreitungen, dem Hinterfragen scheinbarer Gewissheiten Bei seinem nächsten Projekt fürs Staatsschauspiel, dem Nord Labor „Das glaubst du ja wohl selber nicht!“ wird das wohl ähnlich ablaufen.

 

Wenn Schorsch Kamerun morgens vor der Probe in der Stuttgarter Theaterkantine sitzt, schwärmt er. Von Beat-Poeten, von erhellenden Gesprächen mit den Wissenschaftlern im Literaturarchiv Marbach. Hubert Fichte, Hans Magnus Enzensbergers Kisten, toll, was da alles in den Archiven lagert. „Papier liebt 18 Grad“, heißt es, „wie poetisch ist das denn“, sagt Kamerun. Jedenfalls je mehr er von Fauser, Fichte und Co. gelesen hat, desto klarer war: „dass mir das, was daran mal ‚unerhört’ war, genau nicht mehr taugt“ – in dem Sinne, dass man die Texte keinesfalls ohne Distanz auf die Bühne bringen kann. Bis auf Rolf Dieter Brinkmann womöglich. Er hat sich jeglichen Kategorisierungen und Zuschreibungen entzogen. Kamerun: „Die Überzeugungen der Beatpoeten liegen mir natürlich nahe. Gegenkultur, Befreiung von der Bürgerlichkeit, eine gewisse Kaputtheit, die Urbanität, Entfremdung, gesellschaftliche Verlierer, Rausch. Bukowski und Co. suchten eine Kaputtheit, die heute aber nicht mehr radikal ist. Die Leute lesen diese Text heute als Retrotexte, als Geschichtstexte.“

Heute seien „Feindbilder“ weiter weggerückt“, bestehe Auflehnung eher in Eskapismus. „Es ist aufregender, in den Wald zu gehen und zu versuchen, die Stille auszuhalten.“ Die großen Gegenbewegungen seien passé – „durchgesetzt“ sagt Kamerun dazu –, wenngleich die Verhältnisse, gegen die er als jugendlicher Punk aufbegehrte, nicht besser geworden seien. „Punk war ja auch beklemmend, ein Ausdruck von Angst, dass, salopp gesagt, der Schrott alles kaputt macht.“ Geblieben ist aber die „Sehnsucht nach etwas, was ich nicht kenne. Dorthin zu gehen, wo ich mich nicht auskenne“.

Der Sänger der Goldenen Zitronen spielt jeden Abend mit

Aber so könnte es also an den Abenden im Nord am Stuttgarter Pragsattel gehen: sich fragen, was an der Beat-Poesie heute doch noch interessant sein kann. Mit Schauspielern, einer Opernsängerin, Dramaturgen, Experten und Studierenden der Kunstakademie oder dem Literaturarchiv Marbach Ideen entwickeln und mit den Begriffen spielen. Das Expressive, Rauschhafte, Experimentelle, Irritierende, Sinnfreie, Dilettantische, Angriffslustige, Umdieeckegedachte, Übertriebene, Unfassbare wären solche Begriffe –sie werden Motto für zehn Abende mit offenem Ausgang sein und jede Performance ist nur einmal im Nord zu erleben. Wenn es gut wird, wird es so wie es „Positionen“ heißt, einem Lied der Goldenen Zitronen: „plötzlich neue Positionen, die Fähigkeit zur Handlung, und aus reinen Wünschen springt überraschend frischer Anspruch.“

Viel ist noch im Entstehen begriffen. Musik, Kunst, Literatur, Schauspiel wird es an den Abenden geben, immer auf der Bühne, hoffentlich auch singend: Schorsch Kamerun. Der Musiker und Regisseur verneigt sich vor der Memorierfähigkeit der Schauspieler. „Ich schaffe es nicht mal, meine eigenen Texte zu lernen“. Etwas sollen, etwas müssen – schwierig für Schorsch Kamerun, wie sich in seinem eher weniger als mehr verschlüsselten biografischen Roman „Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens“ nachlesen lässt, in dem ein widerborstiger Teenager namens Horsti aus Bimmelsdorf Anarchie und Punk entdeckt, sich fortan Tommi from Germany nennt und protestierend in die große weite Welt hinauszieht, zumindest bis nach Hamburg. Ein charmanter kleiner Bildungsroman ist ihm gelungen, in dem der 1963 in Timmendorfer Strand geborene Autor seinen Werdegang vom Schulverweigerer, Bürgerschreck und Automechaniker, zum Punksänger der Band Die Goldenen Zitronen und Goldener-Pudel-Clubgründer wird, der seit vielen Jahren auch als Theaterregisseur an großen Bühnen arbeitet und seinen Werdegang selbstironisch auf den Punkt bringt: „Er wurde Bühnenschreihals, Ton-, Text- und Darstellungsprobierer.“ Wobei die Bandauftritte der Goldenen Zitronen jede Menge Theatralität bergen, und die Theaterabende davon profitieren, dass Kamerun seinem auch im Buch formulierten Ziel der „großen Gelassenheit“ erstaunlich nahe gekommen ist. Manches scheinbare Bühnenchaos und irre Schauspielermarotten aushaltend, hat er seither singend und moderierend für Lässigkeit und Schauvergnügen gesorgt, zuletzt im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg.

Poetische Happenings und fantastische Bilder

Kamerun ist ein Künstler, der auf Haltung achtet, ein feines Gespür für Klischees besitzt und durchaus weiß: die Gefahr des Hofnarrentums lauert immer und überall. Man kann vom Kunstbetrieb schnell vereinnahmt werden, der auch irgendwie cool und jugendlich sein will. Doch „als Punk buchen lassen wollte ich mich nicht“, sagt Kamerun. Statt dessen zeigte er große Bühnenspektakel, ließ Ritterburgen bauen, veranstaltete politische Abende etwa als Musical, in dem es um autoritäre Politiker ging, fürs Schauspielhaus Zürich. Aber, sagt Kamerun, „wenn man zu viel Spektakel macht, wird man selbst irgendwann zum Spektakel. Auch als Band haben wir uns irgendwann einmal dem Publikum und seinem Verlangen verweigert, nur die Hits zu spielen.“

Inzwischen tendieren Kameruns Regiearbeiten hin zum poetischen Happening, in denen er Themen, künstlerische Strömungen in abstrakte Fantasiebilder und Aktionen übersetzt. Sein Romanheld Tommi beschreibt das so: „Musik und Text sind dabei der gehörte Inhalt, die der Zuschauer in unterschiedlichen, verzerrten, pseudorealen Umgebungen erlebt, die er frei durchlaufen kann. Wie ein unsichtbarer Zeuge, der zum Glück nicht mitspielen muss, in einem vertrauten, aber künstlichen Parcours mit konträrem Klang.“

An den Münchner Kammerspielen ist ihm mit Chören und Schauspielern ein Abend über Reformbewegungen gelungen. In Stuttgart überzeugte er mit dem Fluxus-Abend, wo er eine begehbare Wunderkammer kreierte, mit Auftritten eines Posaunenchors, einer Band, prachtvoll kostümierten Darstellern: Bilder, die im Gedächtnis blieben.

Am besten hat er seinen künstlerischen Anspruch und seine Arbeitsweise selbst in seinem Buch beschrieben: „Sein wichtigstes Streben galt dabei weiter der Überprüfung von Gesetzmäßigkeiten aller Art. Bei Bedarf probierte er dazu immer neue Täuschungsmanöver.“ Der nächste Versuch findet jetzt im Nord in Stuttgart statt.

INFO: Schorsch Kamerun liest am 3. Mai um 20 Uhr im Literaturhaus Stuttgart aus seinem Roman „Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens“. www.literaturhaus-stuttgart.de Am 6. Mai beginnt das von ihm gestaltete Nord-Festival „Das glaubst du doch wohl selber nicht“ mit „Das Expressive“ um 20 Uhr und anschließender Party, gefolgt von „Das Rauschhafte“ am 7. Mai um 20 Uhr. www.schauspiel-stuttgart.de