Die Initiative „Radentscheid Stuttgart“ hat elf Forderungen, um in der Autostadt Stuttgart bessere Verkehrsbedingungen für Radfahrer zu schaffen. Thijs Lucas ist Mitbegründer. Wie stellt er sich das Stuttgart der Zukunft vor?

Stuttgart - Thijs Lucas ist schon aus der Ferne auf seinem Fahrrad erkennbar, jung und großgewachsen, um die Schultern hängt ein schweres Fahrradschloss. Wenn der 32-Jährige übers Radfahren in Stuttgart spricht, ist er kaum noch zu bremsen. Er hat ein Ziel: Stuttgart soll Fahrradstadt werden.

 

„Andere Städte zeigen Fotos von ihren schlechten Radwegen, wir in Stuttgart haben gar keine“, sagt er zynisch. Die Stadt gehöre den Autos, die Radfahrer zögen meistens den Kürzeren. Wo das so ist, weiß er genau.

Erste Station: Alexanderstraße

Straßenbahnschienen durchziehen die Straße am Eugensplatz. Einen Radweg oder zumindest einen Radschutzstreifen gibt es nicht. „Die Leute werden nervös, wenn sie den Berg hochfahren und hinter ihnen fährt eine Straßenbahn. Die Gefahr ist, dass man mit den Rädern in den Schienen stecken bleibt“, erklärt Lucas.

Zielsicher fährt Lucas den Berg hinunter, immer darauf bedacht, den schmalen Streifen zwischen Schienen und parkenden Autos zu treffen. Hier bräuchte es einen sicheren Radweg, findet Lucas, doch dort wo Platz wäre, parken Autos.

Sehen Sie im Video: Deshalb ist Stuttgart keine Fahrradstadt.

Was will der Radentscheid konkret erreichen?

Wenn es nach den Vorstellungen der Initiatoren des „Radentscheid Stuttgart“ geht, muss sich einiges ändern in der Stadt. Was die Gemeinschaft konkret erreichen will, das haben sie in elf Forderungen formuliert. Ihr Kern ist der Ausbau des Fahrradnetzes: Sichere Radverkehrsanlagen an 15 Kilometer Straße pro Jahr, die Umgestaltung von 15 Kilometern Straße pro Jahr zu attraktiveren Fahrradrouten sowie der Bau von 33 Kilometern Hauptradrouten für Alltags- und Pendelverkehr pro Jahr. Außerdem soll die Stadt bestehende Gefahrenstellen sofort beseitigen und mindestens 31 Kreuzungen und Einmündungen pro Jahr sicher gestalten.

Neben diesen konkreten Formulierungen werden auch mehrere Forderungen gestellt, zu denen sich Stuttgart in Zukunft verpflichten solle. Dazu gehören etwa die Pflege der Radwege, mehr Abstellmöglichkeiten sowie das Sensibilisieren der Stuttgarter für Rad- und Fußverkehr.

Stau beim Radwegebau

Auf Tour mit Thijs Lucas geht es weiter, auf dem Weg zum Charlottenplatz ist wie so oft Stau. Was hält Lucas von E-Bikes? „Klasse, wenn das die Stuttgarter zum Radfahren bringt. Ich würde mich freuen, wenn die Leute in Zukunft ihren Nachbarn nicht den neuen Porsche, sondern das neue E-Bike präsentieren.“ Über den Charlottenplatz verläuft die Hauptradroute 1, der am besten ausgebaute Radweg in Stuttgart. „Vor zehn Jahren plante man den Bau von zwölf solcher Hauptradrouten, eine pro Jahr“, erzählt Lucas. „Bisher wurde nur eine fertiggestellt.” Ein Problem dabei: Parkplätze. „Alle Parteien sagen, sie wollen den Radverkehr verbessern, aber sobald es an Parkplätze geht, heißt es: ‚Das können wir nicht machen.’”

Stuttgart ist vor allem auch Pendlerstadt. Wie kann ein besserer Radverkehr da helfen? „Wenn wir den Teil der Leute erreichen, der bis zu 15 Kilometer Arbeitsstrecke hat, dann können wir dem Verkehr helfen“, sagt Lucas. Radverkehr bringe auf derselben Fläche elf mal so viele Menschen unter wie Autoverkehr. „Das bedeutet weniger Stau auf den Straßen und weniger Verspätung bei der Straßenbahn.”

Barrieren auf dem Radweg

Lucas windet sich gekonnt mit dem Fahrrad über die Straßen und Radübergänge an den Kreuzungen. Die Hauptradroute verläuft nun parallel zur B14, aber wird immer wieder unterbrochen von Liefereinfahrten.

„Teilweise parken die Lieferwagen auf dem Radweg, die Polizei interessiert das nicht. Die sagen: Wo sollen die denn sonst parken?“, kritisiert Lucas. Über die Eberhardstraße geht es zur Kreuzung am Tagblatt-Turm, auch diese ist Teil der Hauptradroute 1. Doch die Ampelschaltung lässt das nicht erkennen. „Sieben Sekunden ist hier die Grünphase für den Radstreifen, die Phase für die Autos ist sehr viel länger“, sagt Lucas.

Der Mann steuert auf sein nächstes Ziel zu: die Tübinger Straße. „Immer wenn mich jemand fragt, was ich gut finde in Stuttgart, führe ich sie dahin“, sagt der Radfahrer. Die Tübinger Straße ist eine Fahrradstraße nach dem Shared Space-Konzept, einer offenen Verkehrsplanung ohne Bordsteine und andere feste Markierungen. „Das System ist nicht perfekt und man hat immer noch sowas wie eine Straße, aber es ist ein Fortschritt“, sagt Lucas. Dass die Straße für Anlieger frei ist, findet er akzeptabel: „Ich habe ja selbst auch ein Auto, mit dem ich zur Arbeit fahre.“ Auch gegen Parkstreifen hat er prinzipiell nichts. „Die Anwohner müssen ja auch irgendwo parken.“ Das Verkehrskonzept auf der Tübinger Straße ist zuletzt allerdings in Kritik geraten, weil zum Beispiel Menschen mit Behinderung sich von Auto- und Radfahrern eingeschüchtert fühlen. Die Beschwerden häufen sich, weshalb nun eine Umgestaltung diskutiert wird.

„Ich bin kein Politiker, ich bin Ingenieur“

In Thijs Lucas’ Vision vom Stuttgart der Zukunft haben auch Autos Platz. Dass er sich als studierter Ingenieur, der für Daimler arbeitet, für den Radentscheid engagiert, ist für ihn nicht widersprüchlich. „Angefangen hat das mit den Diesel-Fahrverboten. Als Ingenieur habe ich mir das Problem angeschaut und einfach Lösungen gesucht”, erklärt Lucas. „Über Netzwerke wie Critical Mass bin ich schließlich zur Gründung von ‚Zweirat’ gekommen. Der Radentscheid in Berlin hat uns dann inspiriert, unsere eigene Initiative zu starten.“

Nun steht Lucas an der Theke eines Eisladens und bestellt zwei Kugeln: „Birne-Kakaosplitter... und Rakete“. Die Sorte kennt er noch nicht, aber die Eisdiele schon: „Schlecht war‘s hier noch nie.“ Vor der Eisdiele trifft er zufällig eine Bekannte. „Hast du denn eigentlich schon unterschrieben?“, ruft er ihr zu. Sie verneint, doch das wundert ihn nicht allzu sehr. „Sie ist halt Autofanatikerin“, sagt er achselzuckend.

Wie erfolgreich ist der Radentscheid bislang?

Viele andere hingegen haben schon unterzeichnet. Bis Anfang November läuft der Antrag für die Verbesserung von Radverkehrswegen in Stuttgart noch, 20.000 Unterschriften sind bis dahin notwendig. „Wir haben derzeit 40 Sammelstellen, wir würden gerne auf 200 erweitern. Offiziell erhalten haben wir bisher 7.000 bis 9.000 Unterschriften, aber es liegen wahrscheinlich immer noch viele ungezählt herum. Durchschnittlich bekommen wir an einer Sammelstelle etwa eine Unterschrift am Tag“, erklärt Lucas.

Und was passiert, wenn sie ihre Unterschriften alle gesammelt haben? „Außer, dass ich erst mal Urlaub mache?“, scherzt Lucas. „Erstmal wird das Ganze rechtlich geprüft, danach fällt der Gemeinderat das Urteil.“ Er bezieht sich auf die elf Forderungen, die die Initiative in ihrem Antrag gefordert hat. Diese müssen als Ganzes akzeptiert werden. „Meine Hoffnung wäre, dass die Stadt ähnlich reagiert wie in Berlin, da haben die die Forderungen nicht pauschal akzeptiert, sondern weiter ausgearbeitet.“ Lucas‘ Vision vom Verkehr im Stuttgart der Zukunft ist sehr konkret.

„Wenn ich mal Kinder haben sollte, die alleine mit dem Fahrrad zur Schule fahren, will ich mir keine Sorgen machen müssen. Und dass meine Frau und ich trotzdem am Wochenende mit dem Auto in den Schwarzwald fahren können, das wünsche ich mir auch.“

Hinweis: Der Text ist im Rahmen eines Journalisten-Workshops in Zusammenarbeit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung entstanden.