Ist in der Flüchtlingspolitik der Rechtsstaat außer Kraft gesetzt? Ein Bürger fragte den Staats- und den Parlamentschef nach einem OLG-Urteil mit diesem Verdikt – doch nach den Auskünften ist er nicht viel klüger.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Der Satz der Bundeskanzlerin könnte auch auf Parteifreunde wie Georg Wengert gemünzt gewesen sein. „Es muss mehr Ordnung in alle Arten der Migration kommen“, sagte Angela Merkel jüngst bei der Generaldebatte im Bundestag, „damit Menschen den Eindruck haben, Recht und Ordnung werden durchgesetzt.“ Genau daran hat der Wirtschaftsprüfer und Steuerberater aus Singen am Hohentwiel, der in der CDU gut vernetzt ist und regelmäßig Regierende bei Auslandsreisen begleitet, seit geraumer Zeit seine Zweifel.

 

Noch größer wurden diese, als zu Jahresbeginn ein Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz von 2017 die Runde machte. Im Fall eines jungen Mannes aus Gambia entschied der zuständige Senat, dieser habe sich eindeutig durch seine „unerlaubte Einreise in die Bundesrepublik“ strafbar gemacht. Dann folgten zwei Sätze, die Kritiker von Merkels Flüchtlingspolitik seither immer wieder zitieren. „Die rechtsstaatliche Ordnung in der Bundesrepublik ist in diesem Bereich jedoch seit eineinhalb Jahren außer Kraft gesetzt, und die illegale Einreise ins Bundesgebiet wird momentan de facto nicht mehr strafrechtlich verfolgt.“

„Komplexes Geflecht von Regeln“

Ein Obergericht sieht den Rechtsstaat in Deutschland ausgehebelt – das ließ Wengert keine Ruhe. Also wandte er sich an Instanzen, die aus seiner Sicht zur Wahrung von Recht und Ordnung berufen sind. Was sie denn dazu zu tun gedächten? Auf die Reaktionen musste er teilweise lange warten. Nun, da sie vorliegen, ist er auch nicht viel klüger.

Schon im Februar hatte sich der Singener an den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier (SPD) gewandt. Das Antwortschreiben vom März bekam er erst jetzt, drei Monate später, zugestellt. Begründung: es sei „wegen eines Büroversehens nicht abgesandt worden“, man bitte die Verzögerung zu entschuldigen. Der Bundespräsident habe wiederholt die „enorme Herausforderung“ durch den Zustrom an Flüchtlingen thematisiert, schrieb ihm eine Mitarbeiterin des Rechtsreferates „im Auftrag“. Es sei aber nicht seine Aufgabe, „die operative Politik der Regierung rechtlich zu bewerten“. Das wäre auch gar nicht so einfach, räumte die Referentin ein: „Die Details hinsichtlich der Auslegung und Anwendung des komplexen Geflechts nationaler, europäischer und völkerrechtlicher Regelungen zu Asylberechtigten, Flüchtlingen und subsidiär schutzberechtigten Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen sind auch unter Rechtsexperten höchst umstritten.“

„Nicht gegen geltendes Recht verstoßen“

Ganz anders klang es, was Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) ausrichten ließ. Für ihn ist die Sache eindeutig: „Die Bundesregierung hat in der Flüchtlingssituation weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart gegen geltendes Recht verstoßen“, schrieb eine Mitarbeiterin im Auftrag Schäubles. In den Gesetzen sei klar geregelt, wann die Grenzbehörden die Einreise nach Deutschland aus sicheren Drittstaaten nicht verweigern dürften – etwa, wenn der Bundesinnenminister es „aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen … angeordnet hat“. Von einem Verfassungsbruch könne mithin keine Rede sein, alle dahin gehenden Beschwerden habe das Verfassungsgericht als unzulässig verworfen. Schon wegen der Gewaltenteilung, so die Verfasserin, komme ein Eingreifen des Bundestagspräsidenten nicht in Frage. Er habe in erster Linie für den „ordnungsgemäßen formalen Ablauf der Plenarsitzungen“ zu sorgen. „Dieser Aufgabe kommt Dr. Schäuble auch nach.“

Kein Anfangsverdacht gegen Merkel & Co.

Die ausführlichste Antwort bekam Wengert von der Staatsanwaltschaft Berlin, die er um die strafrechtliche Bewertung des Koblenzer Urteils gebeten hatte. Auf fünf Seiten erläuterte ein Vertreter, warum man das aufgrund seines Schreibens eingeleitete Ermittlungsverfahren eingestellt habe. Als strafrechtlich relevantes Einschleusen von Ausländern sei die „Grenzöffnung“ vom Herbst 2015 schon deshalb nicht zu werten, weil die Flüchtlinge nach der „Grenzöffnung“ ja nicht mehr von einer illegalen Einreise ausgegangen seien; mithin fehle es schon an einer „Bezugstat“. Zudem lasse das deutsche Asylrecht viel Spielraum für ein „weitgehend rechtlich nicht gesteuertes (politisches) Ermessen“. Selbst wenn Karlsruhe irgendwann doch rückwirkend einen Verfassungsstoß monieren würde, hätte das keine strafrechtliche Relevanz. Auch aus dem OLG-Urteil ergebe sich nichts anderes. Fazit der Strafverfolger: Es gebe keinen Anfangsverdacht gegen „Dr. Angela Merkel u.a.“.