Vor der stillen Nacht zieht es die Menschen zu Getöse und Trubel. Die City brummt und blinkt. Unser Kolumnist blieb im Gedränge des Weihnachtsmarkts fast stecken, versucht eine Typologie der Besucher und traf obendrein Gotthilf Fischer.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Umfallen geht nicht – und das Vorwärtskommen wird zum Nahkampf um jeden Zentimeter. Jede berühmte Sardine dürfte mehr Platz in ihrer Büchse haben als der Weihnachtsmarktbesucher, wenn er an einem Donnerstagabend versucht, sich zwischen Altem Schloss und Schillerdenkmal durchzuwühlen bis zur Planie.

 

Verschiedene Charakter blockieren sich im Gewimmel gegenseitig. Typ eins ist der Gestresste, kurz vor der Panikattacke. Im Nadelöhr zwischen den Buden glaubt er, zusammengedrückt zu werden und den Herztod zu sterben. Typ zwei ist der Gelassene, der mit seinen Kumpels (ebenfalls vom Typ zwei) am liebsten demonstrativ im Weg steht. Soeben haben die Jungs einen heißen Becher erworben und trinken den weinähnlichen Inhalt in Budennähe mitten in der Gasse, die laut Polizeiverordnung frei bleiben sollte. Wer zu Typ zwei zählt, lässt sich nicht an den Rand drängen.

Das Glühweinpreis-Gefälle im Kessel ist beträchtlich

Typ drei ist die einsame Seele, eine ältere Dame mit zwei Stöcken, die sich unvermittelt zu einer Gruppe stellt und auf den Moment wartet, etwas fragen zu können in der Art, als sei sie die Erbtante. Typ vier regt sich auf, weil alles überteuert sei auf dem Weihnachtsmarkt. Und Typ fünf beginnt die Debatte, was das große Glitzern und Glänzen der City mit dem Klima macht.

Wenn es Nacht wird in Stuttgart, überrascht ein Gefälle im Kessel. Im Dorotheen-Quartier, im Viertel mit dem Ruf, nobel und hochpreisig zu sein, stehen vor der Sansibar und dem Eduard’s Holzhütten, bei denen der Winzerglühwein drei Euro kostet. Dies mag bereits viel sein, aber im Vergleich zum eigentlichen Weihnachtsmarkt (an dessen Rand sich immer mehr Buden dranhängen) gibt’s beim saisonalen Nationalgetränk geradezu Schnäppchenpreise im DoQu.

Wer bummelt schon zum Sparen über den Weihnachtsmarkt?

Je weiter man sich vom Edelviertel entfernt, desto teurer wird der Glühwein. Die meisten Stände des Weihnachtsmarktes verlangen 3,50 Euro pro Glas . Am anderen Ende, bei der Eisbahn des Schlossplatzes, sind wir sogar bei vier Euro angekommen. Das Preisgefälle ist beträchtlich und fällt von der Lage anders aus, als man es erwartet. Aber wer bummelt schon zum Sparen über den Weihnachtsmarkt? Kostenlos bleiben die Lichtblicke. Zum zweiten Mal sind auf dem Schlossplatz Leuchtketten zu Elefant und Porsche geformt, blinken und blenden als Riesenrad oder Grabkapelle, glitzern und glänzen von der Jubiläumssäule. Darf es vor Weihnachten von Kitsch und Romantik ein bisschen mehr sein?

Nix geht mehr! Diese Warnung indes gilt kurz vorm Fest fürs Weihnachtsmarktgeschiebe. Einer, der sich mit Massen auskennt, ist Gotthilf Fischer, der an diesem Abend auf dem Schlossplatz von der extra aufgebauten Bühne beim „europäischen Adventssingen“ das Publikum dirigiert, das ihn völlig zu Recht anhimmelt. Gotthilf ist der Größte, das weiß hier jeder. Gemeinsam singt man „Freude schöner Götterfunken“. Auch Minister Guido Wolf singt mit, der den 91-Jährigen für sein Lebenswerk als „Gesicht Europas“ mit einer Urkunde ehrt.

Moderator beim Chortreffen ist Roland Bless, ehemals Mitglied bei Pur. Seinen Song „Freiheit und Frieden“ stimmt er mit 450 Sängerinnen und Sängern an und sorgt so für Gänsehautmomente in einer Nacht, die reich ist an Gefühlen, Götterfunken und Glanzpunkten.

Karl Valentin sagte: „Nach der stillen Nacht wird es ruhiger“

Aus Heilbronn kam Ute Beck mit dem Zug, die vor 30 Jahren mit Gotthilf Fischer und seinem Chor um die halbe Welt gereist ist. Zum Meister wird sie nicht vorgelassen. In einem kleinen Zelt darf er sich ausruhen. In letzter Zeit war alles ein bisschen viel für ihn mit Chorproben und Adventssingen an diversen Orten. „Heilbronn ist da“, ruft Frau Beck ihm durch den offenen Zeltzugang von Weitem zu, „die mit dem Trollinger“. Früher habe sie ihm zu Chorproben oft einen guten Trollinger aus Heilbronn mitgebracht. Der 91-Jährige winkt der Trollinger-Dame zurück. Sein Winken sieht aus, als dirigiere er.

Seine Managerin Esther Müller, die das Chortreffen organisiert hat, sagt, Weihnachten werde Fischer im kleinen Kreis daheim feiern, nicht wie in den Vorjahren im Hotel Dollenberg im Schwarzwald. Gleich nach dem Schlossplatz-Auftritt wird er nach Hause gefahren. Die Chöre und ihre Begleitungen – etwa 550 Personen – ziehen dagegen auf den Weihnachtsmarkt, auf dass er noch voller werde. Um es mit Karl Valentin zu sagen: Wenn die stille Zeit vorüber ist, wird es auch wieder ruhiger.