Was bedeutet Krieg, wenn man ein Teil davon ist? Wie findet man wieder heraus?Ein Kommandoführer der Militärpolizei, der wieder ins normale Leben zurückgefunden hat, berichtet.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Stuttgart - Die Augen stahlblau, die schwarzen Haare an den Seiten reißnagelkurz. Die Sonne über dem Hindukusch hat sich in das Gesicht gebrannt. Kriegs-Teint. Seine körperliche Spannkraft ist selbst unter dem legeren Trainingsanzug präsent. Die Narbe vom Schrapnell, das ihn bei Kundus erwischte, sieht man nur, wenn er den Pullikragen etwas nach unten zieht. Tom Bayer* war ein Soldat der Bundeswehr. Er hat durch Zufall überlebt.

 

2001 in Prizren, Kosovo, kommt ihm der Tod sehr nahe. In einem mehrstöckigen Haus explodiert nachts eine Bombe. Minuten später ist Bayer vor Ort. Im ersten Stock vernimmt er, einen Meter entfernt und laut wie einen Schuss, das Zünden eines Schlagbolzens. Der Bolzen soll die Sprengfalle am zweiten Pfeiler hochgehen lassen. Aber nichts passiert. Es bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, dass ihm gerade ein Blindgänger das Leben gerettet hat. Auf der anderen Seite des Gebäudes folgen die dritte, die vierte Detonation. „Dann kommen die Verstärkungskräfte im Körper, dann bist du nur noch Adrenalin.“

Es dauert einen Tag, bis sich etwas Dunkles, Bedrohliches in ihm Bahn bricht. Psychologische Betreuung kennt man bei der Truppe damals nicht. Keiner sagt was. Soldaten sind harte Knochen und müssen das wegstecken. 36 Stunden nach dem Erlebnis gibt er seine Waffe ab – „ich glaube, da stimmt was mit meiner Birne nicht“. Man schickt ihn und drei Kameraden nach Mazedonien zum Strandurlaub. Es hilft tatsächlich. „Irgendwann haben wir uns an unseren Lorbeeren ergötzt und uns als Kriegshelden gefühlt.“

Er auf einem Foto mit Angela Merkel

In einem Ordner ist die Zeit als Kommandosoldat bei der Militärpolizei abgeheftet: mit dem Nato-Wappen versehene Ehrungen, Isaf-Auszeichnungen, Einsatzmedaillen der Bundeswehr in Gold und Silber. Kfor-Urkunden für vorbildliche Pflichterfüllung. Fotos: er neben den Verteidigungsministern Struck und Guttenberg, er mit Kanzlerin Merkel. Eine original gefaltete US-Flagge liegt feierlich auf einem Regal. Die bekam er, nachdem er einen verwundeten Amerikaner aus einem Hochintensivgefecht rausgezogen hatte.

Tom Bayer sitzt im Büro seines Fitness-Studios in der Nähe von Stuttgart. Seit einem Jahr ist er raus. Hinter ihm liegt viel Enttäuschung. Er hat auch noch nicht alles verarbeitet, was in den vergangenen Jahren passiert ist. „Ich bin sicher kein besserer Mensch geworden durch den Soldatenberuf“, sagt er. „Aber er hat mir viel gegeben.“ Bevor er zum Militär ging, hatte er zwei Möglichkeiten: „In die Spur kommen oder auf die schiefe Bahn abrutschen.“ Die Bundeswehr hat ihn auf die Spur gebracht.

Tom Bayer wird 1973 in Stuttgart geboren. Sein Vater hat sich da schon auf und davon gemacht, seine Mutter ist 17 und mitten in der Lehre. Sie schafft es nicht. Mit drei Jahren kommt Tom in eine neue Familie. Sein Pflegevater tut ihm gut, seine Pflegemutter ist Alkoholikerin. Als Jugendlicher wird er zum Raufbold. Mit 18 zieht er aus, macht eine Kaufmannslehre und lenkt seine latente Aggression in sportliche Aktivität um. „Ich wollte immer 1000 Prozent geben, das hatte etwas Zwänglerisches.“ Nach der Lehre richtet er seinen Ehrgeiz auf die Bundeswehr. Die Ausbildung bei der Militärpolizei schließt er als Jahrgangsbester ab. Bald folgt der erste Auslandseinsatz.

Zuerst sprechen sie von „Bad Kundus“

2000 bezieht er das Büro in Prizren. Er erlebt, wie Leute, die Massengräber untersuchen, nach ein paar Wochen „offen“ sind – „also fertig im Kopf“. Er überwacht Ausgangssperren. Nimmt Anzeigen von Eltern auf, die ihre Töchter vermissen. Stürmt Bordelle, verhaftet Mädchenhändler. Fällt in Gehöfte ein auf der Spur von Kriegsverbrechern und Rebellenführern. Legt die 30-köpfige Sippe samt Frauen und Kindern fixiert am Boden ab. Dann gehen politische Berater, Landeskundler, Nachrichtendienstler durch die Reihen und entscheiden, was mit jedem Einzelnen geschieht.

Danach Afghanistan. Bayer wird Personenschützer von hochrangigen Politikern und Militärs. Zunächst eine entspannte Tätigkeit: „Bis 2004 haben wir scherzhaft von Bad Kundus gesprochen.“ Dann werden die Taliban nach und nach aus den Ballungsräumen verdrängt. Sie organisieren sich auf dem Land und führen Guerillakrieg mit typischer Zermürbungstaktik: punktuell zuschlagen, möglichst hohe Verluste verursachen, dann wieder abhauen.

Es gibt Offiziere, die verteidigen vom Büro aus. Andere operieren an der Front. Seine Schützlinge sind von der zweiten Sorte, und so steht Bayer meist hart an der Kampflinie. Einmal wird in einem Konvoi der Geländewagen vor ihm in die Luft gejagt. Zwei tote US-Soldaten. Er ist vor Ort, als ein voll besetzter Wagen die Sperren eines Checkpoints durchbricht und in das MG-Feuer der Wachen rast, das Karosserie und Körper wie eine Säge auftrennt.

Er schießt das Magazin leer

2006 hat er seinen ersten „Gunfight“. „Du funktionierst nur noch“, sagt Bayer. „Man weiß nie, wie einer im Ernstfall reagiert. Ob er über sich hinauswächst oder eine Gefechtslähmung bekommt. Meist sind es die Introvertierten, die über sich hinauswachsen. Nicht die mit der großen Klappe.“

Sein Team ist mit drei gepanzerten Mercedes-G-Modellen auf dem Weg zu einer Brücke an der usbekischen Grenze. Sie machen Rast bei einer Ruine. Plötzlich das Fetzen von Projektilen auf Metall. „Bevor du den Schuss hörst, ist die Kugel schon am Ziel.“ Der Automatismus schaltet sich ein: In Stellung gehen, auf das Ziel feuern – drei in eine Richtung, zwei sichern in die andere. Das Ziel sind vier Afghanen, die fast ungedeckt auf die deutschen Soldaten schießen.

„Der Rest ist Fingerübung“, sagt Bayer. „Der Mensch wird zur Silhouette in der Optik, man sieht das Mündungsfeuer der Waffen. Der Puls rast, das Sehfeld verengt sich.“ Er schießt das Magazin leer, 30 Kugeln. Nach höchstens zwei Minuten ist alles vorbei – „fire und forget“, sagt man in der Militärsprache. Eigentlich ist es Vorschrift, nun Erste Hilfe zu leisten. „Aber wir sind nur noch weg zum nächsten Save Point, einem Feldlager der Dänen.“ Auf der Fahrt merkt er, dass er sich etwas nass gemacht hat.

2008 ist das „fürchterlichste Jahr“: Bayer ist Führer eines Personenschutzkommandos und ständig in Kundus. Fast täglich wird das Feldlager attackiert: Raketen, Panzerfäuste, Präzisionsgewehre, Handgranaten. Draußen Sprengstofffallen im Asphalt. Keine Nacht herrscht Ruhe.

Ein schwer verletztes Mädchen überlebt

Mitte Oktober haben die Deutschen einen Ort hermetisch abgeriegelt. Am Morgen zerreißt eine Explosion die Luft. Bayer ist als einer der Ersten da. Zwei Kameraden liegen tot unter dem Mungo-Lastwagen, sechs afghanische Kinder unweit von ihnen, ein Mädchen bewegt sich noch. Der Attentäter kam mit dem Rad, auf der Brust eine Eisenplatte, darauf den Sprengstoff und zahlreiche Kugellager. Ein verheerendes Sandwich. Durch den Stahl richtet sich die gesamte Explosionskraft nach vorn. Einem Kameraden ist eine Kugel durch die Zähne geschossen, kurz vor dem Atlaswirbel stecken geblieben. Er kann sich noch auf eigenen Beinen zum Weitertransport begeben. Bayer übernimmt die Erstversorgung bei dem schwer verletzten Mädchen. Es überlebt. Er kriegt eine Urkunde.

„Die Afghanen sind tolle Menschen“, sagt er. „Sie helfen dir immer, sie gewähren dir immer Obdach, sie geben dir ihr Bett und ihr letztes Essen.“ Anfangs wurden die Deutschen begeistert mit Hitlergruß empfangen – „wir sind auch reinen Blutes wie ihr“. Als sie erfuhren, dass die Deutschen den Weltkrieg verloren haben, legte sich das etwas mit der Bewunderung. „Aber sie schätzen sehr, was wir in Afghanistan auf die Beine gestellt haben.“ Und was die Taliban oft wieder zerstören. Bayer hat erlebt, wie sie Dörfer unter Druck gesetzt haben, Familienoberhäuptern die Ohren oder die Nase abschnitten. Er hat gesehen, wie junge Lehrerinnen mit gebrochenem Genick vor neu gebauten Schulen hingen.

Kinder stellen sich rotzfrech vor die Autos

Einmal waren muslimische Geistliche und christliche Pfarrer zu einem Gedankenaustausch eingeladen. „Eine heiße Kiste“, sagt Bayer. „Wenn bei den Afghanen die Emotionen hochfahren, die Augen zu funkeln beginnen, dazu die harte, schroffe Sprache – da wird es einem als Personenschützer schon seltsam zumute.“

Auf einem 3500 Meter hohen Pass. Bayer und sein Kommando haben die komplette Thermoausrüstung angelegt, frösteln trotzdem noch. „Und neben uns steht ein Afghane barfuß in Sandalen und stochert sich mit einem Stock den Schnee zwischen den Zehen raus.“ Man kann dieses Volk nie besiegen, sagt er. „Allein die Aufstiege in die Berge. Da geht ein voll ausgerüsteter europäischer Soldat kaputt.“

Frauen bekamen sie nur voll verhüllt zu Gesicht „Aber schon die Art, wie sie gehen, ihre Augen lassen einen ahnen, wie stolz sie sind.“ Für die Kinder sind Bayer und sein Team „wie die Robocops“. Anfangs haben die Jungen großen Respekt, vor allem wegen der langen Feuerstöcke. „Bald stellten sie sich dann rotzfrech vor unsere Autos. Und wir konnten nichts mehr sehen mitten in dieser Kindertraube.“ Schließlich wird ein offizielles Verbot ausgesprochen: keine Verpflegung hergeben, keine Geschenke.

Vor einem Jahr hat Bayer die Uniform abgelegt. Sein Vertrauen war geschwunden. Er fühlte sich übergangen. Haderte mit der Unentschlossenheit, der Mutlosigkeit, der Unfähigkeit von einigen Ranghöheren. Mit der Hinhaltetaktik, was seine beruflichen Perspektiven betraf. „Je mehr ich tat, desto weniger bekam ich zurück. Aber Stillstand bedeutet für mich Rückschritt.“ Er verabschiedet sich langsam von der Bundeswehr. Seit einem Jahr ist er freigestellt, mobilisiert seitdem seinen Kampfgeist für den Aufbau des Fitness-Studios und Athletikzentrums. Ende des Jahres scheidet er endgültig aus, bekommt noch bis 2017 seine Bezüge.

Man könnte ihn mitten in der Nacht wecken, und er könnte sein Gewehr im Bett auseinander- und wieder zusammenbauen – wenn nötig, auch gleich noch das Magazin zerlegen. Bloß bringt ihm das in seinem neuen Leben nichts mehr.

Bayer ist ins Leben zurückgekehrt

„Ich habe die Zeit als Soldat keinen Tag vermisst.“ Hätte er mehr Zeit zum Nachdenken, vielleicht wäre es anders, sagt Tom Bayer. Viele verlieren die Struktur. „Als Soldat wird dir alles vorgeschrieben, vom Wecken bis zur Schlafenszeit gibt es einen genauen Plan.“ Viele finden nicht mehr in die Zivilgesellschaft. „Es ist ein Zusammenhalt wie in einer Bruderschaft“, sagt er. „Bei intensiven Einsätzen zählt nur dein rechter und linker Flügelmann. Die kennen dich besser als die eigene Frau. Im Grunde kämpfst du für die Männer neben dir. Wenn du dir die Birne über die politische Lage zerbrichst, wirst du verrückt.“ Viele finden nicht mehr ins Leben. Ein früherer Kamerad ist heute ein Wrack. Er hat Kinder sterben sehen, musste sie wegtragen. Daheim war er nicht mehr in der Lage, mit seinen eigenen Kindern umzugehen.

Bayer ist ins Leben zurückgekehrt. Er ist noch einmal Papa geworden. Er hat seinen Pflegevater bis zum Tod gepflegt. Er hat endgültig mit seiner Stiefmutter gebrochen. Er hat seine leibliche Mutter getroffen: „Ich stellte mir das immer so vor wie im Fernsehen. Dass man sich in die Arme fällt und heult. Bei mir hat sich gar nichts getan.“ Aber man sieht sich jetzt regelmäßig.

Er ist deutlich entspannter jetzt

Es gibt drei Kreise, die er um sich zieht. In seinen inneren Zirkel lässt er wenige. Eine beliebte Frage ist, wie viele Menschen er denn getötet habe. Wie das denn so sei. „Es gibt Fragen, die stellt man nicht“, sagt er in solchen Fällen, „aber wenn du es unbedingt wissen willst: es ist ein neutrales Gefühl.“ Über die Momente, wenn seine Gedanken „aufbrechen“, wie er es nennt, schweigt er dann. „Ich hoffe, die Männer hatten keine Kinder“, sagt er. Aber hätten sie Gnade walten lassen? „Bei meinem Kameraden Axel taten sie es nicht.“

Seit er raus ist, habe er eine andere Ausstrahlung, sagt seine Frau. Entspannter. „Sie stand treu zu mir und hielt den Wert der Familie hoch“, sagt Bayer. Er hat ihr nicht alles erzählt, von manchen Dingen erfährt sie erst als Zuhörerin des Gesprächs – „das ist sehr interessant“.

Er machte immer alles mit sich selber aus. Inzwischen hat er gelernt: es ist eine falsche Annahme, dass nur Leute aus dem eigenen Bereich einen verstehen. Und: es ist gut, wenn man seine Emotionen zeigt. „Früher war ich eiskalt, manche sagen verschlossen, ich sage eiskalt. Das kann ich mir heute überhaupt nicht mehr vorstellen. Jetzt bin ich ein Familienmensch.“