Das Beste aus dem StZ-Plus-Archiv: Der kleine Ort Betzenweiler ist schuldenfrei, hat zwei Global Player und sehr reiche Bürger. Eine Erfolgskommune – laut der Statistik. Die Wahrheit ist etwas komplexer.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Betzenweiler - Tobias Wäscher verwaltet eines der reichsten Dörfer im Land. Der 37-Jährige wurde vor gut einem Jahr zum Bürgermeister von Betzenweiler gewählt. Mit 96 Prozent der Stimmen. Keiner traute sich, gegen den aus dem Ort stammenden Immobilienfachmann anzutreten, dessen Mutter das einzige Wirtshaus im Dorf betreibt. Jetzt arbeitet der Filius, der zwischendurch nach München ausgeflogen war, nur wenige Schritte entfernt im Rathaus der Vorzeigegemeinde. Auf 770 Einwohner kommen null Euro Schulden und pro Kopf viermal so viel Gewerbesteuer wie im Landesschnitt. Dazu ein aufgehübschter Ortskern und 66 000 Euro Durchschnittseinkommen. Das ist Platz vier in Baden-Württemberg.

 

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Irgendwas machen sie in Betzenweiler also richtig, und zwar nicht erst seit Tobias Wäscher im Amt ist. Deshalb hat er seinen Vorgänger Dietmar Rehm zum Gespräch dazu geholt. Klar ärgere es ihn, dass man in Teilen des Orts keinen Handyempfang hat, sagt Wäscher, und die Autobahn ist auch eine Stunde entfernt. Dafür haben sie in Betzenweiler fünf Gesangsvereine, eine in Eigenregie gebaute Mehrzweckhalle und einen Dorfladen.

Wie kommt’s, dass die Bürger in Betzenweiler so gut verdienen? Über Geld spricht man nicht, sagt Wäscher. Und wenn er es hat, versteckt der Schwabe es auch in Betzenweiler mit großer Sorgfalt vor öffentlichen Blicken. Aber eine Vermutung haben der alte und der neue Bürgermeister schon, und dafür schauen sie auf den Bebauungsplan an der Wand.

Das Gewerbegebiet ist in Grau eingezeichnet. „So groß sehen Sie das bei so kleinen Gemeinden nicht oft“, sagt der Ex-Bürgermeister Rehm. Er weist auf eine zweite Besonderheit hin: „Andere Gemeinden schreiben ihre Flächen aus. Betzenweiler nicht.“ Das gilt auch für das neue Wohngebiet: keine Werbung für die Bauplätze. Sie sollen für die Leute aus Betzenweiler zur Verfügung stehen.

Zwei Firmen bedienen den Weltmarkt

Auf dem Weg nach Betzenweiler fährt man vorbei an Schildern, die mit billigem Grund werben: 20 Euro kostet der Quadratmeter in Zwiefalten, nur unwesentlich mehr in der Nachbargemeinde Dürmentingen. Auf dem Land ist Platz genug, und bevor die Grünen dem Flächenfraß den Kampf angesagt hatten, galt es für kleine Gemeinden als Königsweg, Flächen zu erschließen, um Firmen und Familien anzulocken. In Betzenweiler, dessen Bürger Tobias Wäscher „offen, kritisch, engagiert“ beschreibt, hat man das nicht nötig.

Wie kommt’s? Die Antwort sucht man am besten im Gewerbegebiet – also da, wo der Reichtum mutmaßlich erzeugt wird. Neben einem Hühnerzüchter und einem kleinen Maschinenbauer residieren hier zwei Firmen, die von der oberschwäbischen Provinz aus den Weltmarkt bedienen. Die eine mit Gülletanks und Medizingeräten, die andere mit Sonnenschirmen.

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Biegt man vom Rathaus kommend links ab, steht man vor dem Entree der Firma May. Geleitet wird sie von den Vettern des Bürgermeisters, Karl-Heinz und Klaus-Peter May. Die 42 und 45 Jahre alten Brüder sind bestens gelaunt: In der Früh hat eine Mitarbeiterin in einer Zeitschrift Paparazzibilder von Jennifer Lopez entdeckt, auf denen die Sängerin knapp bekleidet unter einem May-Sonnenschirm entspannt. Aber nicht nur die Reichen und Schönen, auch Kunden von McDonald’s, Nordsee und Starbucks nehmen unter den Schirmen aus Betzenweiler Platz. Sogar das Europäische Parlament zählt zu den Abnehmern. Die Kunden erwarten von den Schirmen hohe Qualität und neuesten Schnickschnack, von der USB-Ladestelle bis zur Fernsteuerung per Smartphone. Kosten: 1000 Euro aufwärts.

Die Erfolgsgeschichte des Anton May

Es ist eine unwahrscheinliche Erfolgsgeschichte. Der Vater Anton May war zuvor Bauer, Werkzeugmacher und Tüftler. Zwar hatte er Mitte der 80er Jahre schon einen Sonnenschirm entwickelt, der sich leichter schließen ließ als andere, aber er brachte ihn nicht an den Mann. May war schon fast bankrott, als der Chefeinkäufer von Philip Morris anrief. Ein hölzerner Werbeschirm hatte eine Frau tödlich verletzt, die Tabakfirma brauchte dringend ein Modell mit Alugestell, bezahlt wurde per Eilüberweisung. Im früheren Schweinestall entstanden die ersten 30 Sonnenschirme, Tausende weitere folgten. „Was im Silicon Valley die Garage, das ist in Oberschwaben der Stall“, sagt Klaus-Peter May. „Hier werden Landwirte zu Unternehmern. Klassischer Strukturwandel.“

Der demokrafische Wandel in Murrhardt

Aus dem Stall wurde eine Produktionshalle, dann noch eine und noch eine. Die Brüder blieben fürs Studium im Schwäbischen und trimmten die Firma auf Wachstum. 140 Fräsern, Nähern, Elektrikern, Konstrukteuren geben sie Arbeit, wobei nur ein kleiner Teil in Betzenweiler wohnt – eine halbe Stunde Pendeln ist keine Ausnahme mehr. Es fehlen nicht nur Fachkräfte: Zwei Besuche vom Regierungspräsidium und einen großen Bericht in der Lokalzeitung brauchte es, ehe die Behörde ihr Okay zu einer lange geplanten Erweiterung gab. Bis die fertig ist, finden Besprechungen im improvisiert angebauten Container statt. „Ja, hier verkaufen wir Lifestyle-Produkte“, sagt Klaus-Peter May und schüttelt den Kopf.

Anton Reck erfand den Güllemixer

Aber man wollte ja über Geld sprechen. Sind die Mays für das hohe Durchschnittseinkommen verantwortlich? Schließlich können in einer kleinen Gemeinde schon zwei, drei Gutverdiener den Schnitt massiv heben. Aber nicht doch, sagt Klaus-Peter May. Er wohnt in der noch kleineren Nachbargemeinde Alleshausen, wo im Schnitt nur halb so gut verdient wird. Er denkt, dass der Reichtum in Betzenweiler gut verteilt ist und dass das an Vorbildern wie seinem Vater liegt, der vom Landwirt zum Unternehmer wurde. „Als er es geschafft hat, dachten sich die anderen im Dorf: Das kriegen wir auch hin.“

Auch Alois May hatte ein Vorbild, nämlich Anton Reck. Der hat auf der anderen Straßenseite gebaut, und zwar gut 30 Jahre, bevor der erste Sonnenschirm in Betzenweiler entstand. Der Metzgersohn erfand einen Güllemixer, weil er bei den Bauern im Ort beobachtete, dass Gülle beim Lagern teilweise fest wird. Er war der erste Unternehmer am Ort. Vor fünf Jahren ist er gestorben.

Der Flecken, den morgens alle verlassen

Heute führt seine Tochter Christine das Unternehmen, eine gelernte Architektin. Zum Gespräch lädt sie ins selbst geplante und preisgekrönte Verwaltungsgebäude. Von hier aus sieht man den Bussen, den „heiligen Berg Oberschwabens“, die Produktionshallen der Firma und eine Wiese. Die gehört Christine Reck zwar, sie würde hier auch bauen, darf aber nicht. „Weil ökologische Ausgleichsflächen fehlen“, sagt Bürgermeister Wäscher, auf dessen Schreibtisch eine dicke Akte mit der Aufschrift „Reck“ liegt. Weil der Gemeinderat es nicht wolle, sagt Christine Reck.

Christine Reck durfte in Betzenweiler nicht bauen

Sie ist die größte Arbeitgeberin am Ort. Die Firmen, die ihren Namen tragen, stellen neben Güllemixern den Motomed her, eine Art motorgetriebenen Heimtrainer, der vor allem in der Bewegungstherapie eingesetzt wird. Die Produktpalette ist so ungewöhnlich wie die Architektin selbst, die ihr Alter nicht nennen mag, woanders wohnt und sich auch äußerlich abhebt in Betzenweiler. Kurze Haare, Designerbrille, extralange Bluse: Reck ist eine Weltbürgerin in der Provinz. Man kann sich vorstellen, dass das nicht immer gut geht.

Bei ihrer neuen Halle ging es jedenfalls nicht gut, vor zwei Jahren war das. Als sie in Betzenweiler nicht bauen durfte, ging sie eben in den Nachbarort Dürmentingen. Zwei Tage nach dessen Amtsantritt stand sie im Zimmer des dortigen Bürgermeisters, kaufte zwei Hektar erschlossenes Bauland und reservierte noch einmal die gleiche Fläche. Ein Jahr später wurde ihr Forschungs- und Entwicklungsgebäude eröffnet, bei der Gelegenheit feierte sie mit 65 neuen Mitarbeitern auch gleich das 60-jährige Firmenjubiläum – in Dürmentingen und nicht in Betzenweiler. Dietmar Rehm, der vom gemeinschaftlich errichteten Grillplatz bis zum geretteten Dorfladen viele kleine Erfolgsgeschichten erzählt, bezeichnet den Fall als größte Schlappe seiner 16 Jahre im Amt.

Christine Reck findet, ihre Familie sei noch nie wirklich gut gelitten gewesen in Betzenweiler. Die Recks waren schon immer anders: der Vater ein Pionier, sie eine weltoffene Unternehmerin – und das in einem Ort, der selbst im Neubaugebiet alles Fremde draußen halten will. Auch beim Dorffest scheinen Reck und ihr Heimatort manchmal zu fremdeln. Manchem Gemeinderat hat sie klargemacht, dass man nicht gleich per Du ist, nur weil man dieselbe Grundschule besucht hat. Die Sonnenschirmfirma May würde sie gern kennenlernen. Über die Straße gegangen, um Hallo zu sagen, ist sie bis heute nicht.

„Älles sot so sei, wie’s sei sott“

Auf dem Friedhof hat Christine Reck ihrem Vater einen Grabstein hingestellt, der sich vom Rest so sehr abhebt wie ihr preisgekrönter Bürobau vom übrigen Gewerbegebiet. Der Stein trägt die Unterschrift von Reck senior, darunter steht „Gründer – Unternehmer – Ehrenbürger“. Ja, im Dorf haben sie ihren Vater zum Ehrenbürger gemacht und ihm einen Nachruf ins Amtsblatt geschrieben. Die Tochter scheint eine ähnliche Anerkennung nicht zu spüren – obwohl sie doch das Unternehmen offenbar erfolgreich weiterführt, seit er sie vor neun Jahren in die Geschäftsführung geholt hat. Bürgermeister Wäscher und sein Vorgänger Rehm wollen nichts über sie sagen, nur dies: Es sei „extrem schade, dass das Unternehmen entzwei gerissen wurde“ und dass die zweite Unternehmergeneration eben anders sei.

Christine Recks verstorbener Vater dürfte einiges auf der hohen Kante gehabt haben. Das kann eine Erklärung für den Spitzenplatz des Orts in der Statistik sein, die aktuellsten Zahlen sind von 2014 – Anton Recks Todesjahr. Ihr Vater, sagt Christine Reck, sei der Erste gewesen, der hier als Unternehmer gutes Geld verdiente und seine Abende anders als viele im Ort nicht im Stall verbringen musste. Man kann sich schon vorstellen, dass da mancher in Betzenweiler neidisch wurde.

Alle ihre Vorfahren stammen aus dem Ort, und Christine Reck spricht einen eigentümlichen, vom Schweizerdeutsch geprägten Akzent. Nach dem Dreißigjährigen Krieg siedelten Schweizer in Betzenweiler, „Stoischweizer“ heißt die hiesige Narrenzunft. Sogar Recks Mann, gebürtiger Niedersachse und mit ihr Geschäftsführer, spricht Schwäbisch. Deshalb hilft den beiden ein schwäbischer Spruch, wenn sie die Welt im reichen oberschwäbischen Vorzeigedorf mal wieder nicht verstehen. Sie haben ihn einst in Biberach aufgeschnappt. Die beste Definition von Provinz? „Älles sott so sei, wie’s sei sott.“