Die Friedenspreisträgerin Carolin Emcke beeindruckt im Kammertheater mit ihren glasklaren Thesen zu Gewalt und Empathie.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Als Carolin Emcke ein Kind war, sagten die Erwachsenen gern, sie solle nicht „mitschnacken“. Sie ist in Hamburg aufgewachsen, und für die Eltern verbarg sich hinter dem lapidaren „mitschnacken“ die durchaus ernsthafte Mahnung, sich als Mädchen vor sexuellen Übergriffen in Acht zu nehmen. Was das meint, wurde allerdings nicht weiter benannt. Aus heutiger Sicht ist dieses beiläufige „Mitschnacken“ für Carolin Emcke ein Indiz für den generellen Umgang mit sexueller Gewalt in unserer Gesellschaft. Aus ihrer Sicht verrät es, dass nicht die Handlung, also der Missbrauch tabuisiert werde, so Emcke, „sondern das Sprechen darüber“.

 

Bei ihrer „Lecture Performance“ im Stuttgarter Kammertheater hat die Journalistin nun das getan, was sie für den vielleicht wichtigsten Akt im gesellschaftlichen Miteinander hält: zu sprechen, Missstände einerseits deutlich und tabufrei zu benennen. „Ja heißt ja und. . .“ nennt sich ihre Textcollage, die an der Schaubühne Berlin entstanden ist und inzwischen auch als Buch herausgekommen ist. Die dabei verhandelten Themen: Macht, Missbrauch und „#MeToo“.

Zweifel sind wichtig beim Denken

2016 bekam Carolin Emcke – für manchen überraschend – den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Ihre Lesung im ausverkauften Kammertheater lässt keinen Zweifel, dass sie als Autorin und Mahnerin zu einer wichtigen Stimme in der aktuellen Gesellschaft geworden ist. In ihren glasklaren und klugen Analysen entlarvt Carolin Emcke die Wirkkraft von Worten und Bildern, bürstet das Selbstverständliche gegen den Strich und deckt infame Argumentationsmuster auf. Was ist Macht, fragt sie etwa – und kann das, was so selbstverständlich in aller Munde ist, doch auch nicht recht greifen. „Macht ist so herrlich unpräzis“, sagt sie, trotzdem würden wir über sie sprechen, „als ob sie ein statisches Ding wäre.“

Der Zweifel ist aus Emckes Sicht ein wichtiger Ratgeber beim Denken und auch Verfassen von Texten. „Ich schreibe, als ob ich murmeln würde“, erzählt sie, das Schreiben sei für sie „eher ein Nachdenken mit Tastatur“. Keinen Zweifel lässt sie dagegen daran, dass sie eine vehemente Befürworterin der „#MeToo“-Debatte ist. Mit einem Streich wischt Emcke alle Kritik an der Bewegung vom Tisch: Bei #MeToo gehe es nicht darum, zu klagen oder andere zu denunzieren, sondern um „ein anderes Wahrnehmen“ und um das „was wir uns nicht gern vorstellen“. Statt die Debatte mit Schlagworten wie „Tugendterror“ abzutun, müsse man allen, die sexuelle Übergriffe ansprächen und öffentlich machten, bedingungslos mit Respekt begegnen und zuhören.

Feminismusdebatten sind für Emcke keine Luxusdebatten

Da ist es wieder, das Zuhören einerseits und das Sprechen andererseits. Emcke, die ihr Bühnenprogramm als Angebot versteht „zum gemeinsamen Nachdenken“, hält es für einen Ausdruck von Freiheit, jenseits der eigenen Bedürfnisse über Zustände nachzudenken. Deshalb will sie den Kampf gegen Missstände auch nicht jenen überlassen, die unter ihnen leiden, da sie alle angehen.

Feminismusdebatten seien entsprechend keine Luxusdebatten, sagt sie entschieden. „Es gibt auch keine Haupt- und Nebenprobleme“ und „keine Hierarchisierung des Leids“. Ihr Fazit: Jede und jeder hat das Recht, gehört zu werden.

Ganz in Schwarz sitzt die Autorin auf der düsteren Bühne und wirkt manchmal fast pastoral. Ihre Sprache ist gewählt und poetisch angereichert. Emckes Hauptstilmittel ist die Wiederholung, mit der sie den Gedanken mitunter staccatohaft Emphase verleiht, um sie ihrem Publikum förmlich in die Köpfe zu hämmern, damit es die Augen nicht länger vor den Tatsachen verschließen möge. Emcke spricht mit viel Pathos. Sie zelebriert ihre Texten nachgerade, Texte, die ein grundsätzlicher Betroffenheitsgestus durchzieht. Aber der Friedenspreisträgerin geht es eben um viel. Sie wirbt um Empathie, wozu Gewalt direkt und unmissverständlich benannt sein muss.

Die strenge Mahnerin hat auch Humor

Dass sie durchaus auch Humor besitzt, verrät Carolin Emcke in einem scharfzüngigen Text über den Bademantel, der in so vielen Geschichten über sexuelle Übergriffe wie selbstverständlich auftaucht. Eine dienstliche Besprechung im Bademantel zu führen, demonstriere die Macht, alles, was sich gehört, außer Kraft setzen zu können, meint Emcke, „umso besser, wenn es nicht zur Situation passt.“

Ist ein Opfer nicht auch selbst schuld, wenn es sich in solche oder andere riskante Situationen begibt? Emcke antwortet mit einer Gegenfrage: Muss man immer davon ausgehen, dass das Gegenüber, dass der geliebte Partner, der vertraute Mensch, der Kollege oder Vorgesetzte einem plötzlich Gewalt antun könnte? Auch diese Botschaft ist deutlich: Nicht das Vertrauen in Menschen muss gegeißelt werden muss, sondern im Gegenteil der Missbrauch von Vertrauen.