Da kann der Leitzins in Europa noch so niedrig sein: Sechs Prozent Zins verlangt der Staat auf Steuernachzahlungen – und nimmt damit viele Millionen Euro ein. Die Steuergewerkschaft hält die Kritik daran für überzogen.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Frühestens 2020 will die Europäische Zentralbank ihre auf Rekordtief verharrenden Leitzinsen anheben. Doch der Staat verlangt weiter sechs Prozent Zinsen auf Steuernachzahlungen – seit 1961 schon und vom Gesetzgeber so festgelegt. So hat er im Vorjahr bei der Einkommensteuer 60,7 Millionen Euro eingenommen. Erfahren hat diese Zahl der FDP-Finanzexperte Markus Herbrand vom Bundesfinanzministerium. „Angesichts der anhaltenden Niedrigzinsphase ist der gesetzliche Wucherzins eine blanke Frechheit, die auf Kosten der Steuerzahler geht“, rügt der Liberale via Twitter. „Die Groko hätte längst aktiv werden müssen.“

 

„Nachzahlungen dürften im Grunde gar nicht sein“

Der Vorsitzende der Deutschen Steuergewerkschaft, Thomas Eigenthaler, hält die Aufregung hingegen für „politisch hochgezogen“ und für „nicht berechtigt“, wie er unserer Zeitung sagte. So verzinse der Staat Erstattungen an die Bürger mit demselben Zinssatz, was aus seiner Sicht viel wichtiger sei, weil sich der Staat auch Zeit lasse. Das Land Baden-Württemberg hat 2018 im Saldo von Nachzahlungs- und Erstattungszinsen aus diesem Grund 827 701 Euro eingenommen, wie das Finanzministerium auf Nachfrage mitteilte.

Die Zinsfrist, so Eigenthaler, setzt sowohl bei Guthaben des Steuerzahlers als auch bei Nachzahlungen an den Staat jedoch erst mit dem 16. Monat ein. Das heißt: 15 Monate nach dem jeweiligen Steuerjahr sind zinsfrei. Darüber hinaus „ist der Staat kein Kreditgeber“, betont der frühere Finanzamtsleiter in Stuttgart. „Nachzahlungen dürften im Grunde gar nicht sein.“ Oft würden Steuerzahler und ihre Berater den Staat aber wie einen billigen Kreditgeber behandeln, etwa durch eine späte Abgabe der Steuererklärung, mangels Anpassung von Vorauszahlungen oder durch das Nutzen von „Steuerspielräumen“ in Bilanzen, die erst durch eine spätere Betriebsprüfung aufgedeckt werden. „Keiner braucht Nachzahlungszinsen zu bezahlen, wenn er rechtzeitig reagiert“, sagt Eigenthaler. „Wer weiß, dass er nachzahlen muss, kann dies durch eine ,freiwillige Abschlagszahlung’ ab dem 16. Monat vermeiden.“ Kurz gesagt: In vielen Fällen handele es sich um „Krokodilstränen“, weil die späte Nachzahlung selbst herbeigeführt wurde.

Bundesfinanzhof kommt zu abweichenden Erkenntnissen

Die Rechtsprechung ist unklar: So haben unterschiedliche Senate des Bundesfinanzhofs als dem höchsten Gericht in Steuersachen 2017 und 2018 abweichende Haltungen eingenommen. Mal wurden die Zinsen für verfassungsgemäß, dann für grundgesetzwidrig erklärt – zuletzt im Mai vorigen Jahres. Das Bundesverfassungsgericht hat letztmals 2008 und 2009 entschieden, indem es Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen hat. Von dort kommt somit kein Widerspruch – bisher. Denn aktuell sind noch mindestens zwei Verfahren zu den Zinsen anhängig. „Warten wir doch mal ab, was Karlsruhe sagt“, rät Eigenthaler.

Nach seiner Auffassung sei auch nicht auf die Höhe eines Guthabenzinses, sondern auf die Höhe eines Zinses bei Girokonto-Überziehung abzustellen – der weit über sechs Prozent liege. Die Hinterziehungszinsen würden zudem ebenfalls sechs Prozent betragen. „Gerade hier wird deutlich, dass in diesen Fällen der ,Kredit durch Betrug’ nicht noch durch eine Zinsabsenkung belohnt werden sollte“, betont der Gewerkschaftschef. „Eigenartigerweise“, befindet er, „diskutiert niemand, dass in Fällen der verspäteten Zahlung, also der Nichteinhaltung einer Zahlungsfrist, der Zins sogar zwölf Prozent beträgt“ – wobei das Gesetz an der Stelle von einem Säumniszuschlag spricht. Diese zwölf Prozent, setzt Eigenthaler hinzu, habe es schon 1974 gegeben, als er im Finanzamt Böblingen anfing.