Die moralischen Konflikte in Zeiten der Flüchlingsströme bestimmen nicht nur Christian Petzolds Wettbewerbsfilm „Transit“. Die Folgen von Flucht und Vertreibung sind omnipräsent. Isabelle Huppert fiel am Festival-Wochenende in der Rolle eine Edelprostituierten aber nicht unter Bärenverdacht.

Berlin - Die Gala-Vorstellung am Samstagabend ist das Filetstück im Berlinale-Wettbewerb; in diesem Jahr wurde der Prime-Time-Termin an Christian Petzolds „Transit“ vergeben. Petzold war schon mit „Yella“ und „Gespenster“ im Berlinale-Wettbewerb vertreten und gewann 2012 mit „Barbara“ den Silbernen Bären für die beste Regie. Erstmalig bedient sich der Regisseur nun einer literarischen Vorlage. Anna Seghers 1944 erschienener Roman „Transit“ gehört zu den wichtigsten Werken der deutschen Exil-Literatur und hat bis heute nichts an Kraft und Eindringlichkeit eingebüßt.

 

Petzold erzählt die in Paris und Marseille zu Beginn der deutschen Besatzung angesiedelte Geschichte nicht als museales Historiendrama, sondern vor einer ganz gegenwärtigen Kulisse. Schon von der ersten Filmminute an, als ein Mannschaftswagen der französischen Polizei mit Sirene und Blaulicht durch die Straßen des heutigen Paris fährt, wird der Historisierung des Stoffes eine klare Absage erteilt. Aber ebenso wenig geht es Petzold um eine angestrengte Aktualisierung: Die Gegenwart dient hier auf visueller Ebene und in wenigen Dialogpassagen nur als Resonanzraum für eine zeitlose Erzählung, die aus der Vergangenheit heraustritt.

Mit neuer Identität nach Mexiko

Nur knapp schafft es der deutsche Flüchtling Georg (Franz Rogowski) aus dem besetzten Paris nach Marseille. In der Tasche hat er den Pass und das letzte Manuskript des Schriftstellers Weidels, der sich das Leben genommen hat. Mit dessen Identität hofft Georg nun Visum und Schiffspassage nach Mexiko zu bekommen. Marseille ist für zahllose Flüchtlinge aus Deutschland die letzte Hoffnung. In den Cafés und Konsulaten erzählen sie sich ihre Überlebensgeschichten, die kaum noch einer hören möchte. Hier trifft Georg auf Weidels Ehefrau Marie (Paula Beer), die ihren Mann verlassen hat, nichts von dessen Tod ahnt und Tag für Tag die Straßen von Marseille nach ihm absucht, um sich zu versöhnen.

Ein wenig wie ein Geist taucht diese Marie mit klackenden Absätzen immer wieder in den Bistros und Wartesälen auf und passt sich damit ein in das Arsenal der Petzold-Figuren, die oft als Fantome der eigenen Vergangenheit die Gegenwart bewohnen. Aber eigentlich wird hier die ganze Erzählung selbst zum Gespenst, die ins heute hineinragt, wo Flüchtlinge erneut in Transiträumen zum Warten verdammt sind, die - wenn man an die Zustande in libyschen Lagern denkt - sehr viel furchterregender sind.

Das vermeintliche Paradies Europa

In der Pressekonferenz weist Petzold, auf die Aktualität des Stoffes angesprochen, darauf hin, dass gerade das Schicksal von Exilantinnen wie Anna Seghers dazu geführt habe, dass der Asylparagraf ins Grundgesetz aufgenommen wurde, der nun zunehmend beschnitten werde.

Die Folgen von Flucht und Vertreibung sind ein Thema, das im Berlinaleprogramm auch in diesem Jahr omnipräsent ist. In dem Dokumentarfilm „Zentralflughafen THF“ untersucht Karim Aïnouz mit der Flüchtlingsunterkunft im Flughafen Tempelhof einen modernen Transitraum, an dem ebenfalls Vergangenheit und Gegenwart ineinandergreifen. Der Schweizer Wettbewerbsbeitrag „Eldorado“ von Markus Imboden wird sich in einigen Tagen damit auseinandersetzen, wie das Leben der Flüchtlinge im vermeintlichen Paradies Europa tatsächlich aussieht.

Isabelle Huppert geht als Edelnutte ins Bären-Rennen

Besonders eindringlich brachte in der Sektion „Panorama“ Wolfgang Fischers „Styx“ die moralischen Konflikte in Zeiten der Flüchtlingskrise auf den Punkt. Eine fabelhafte Susanne Wolf spielt hier eine Ärztin, die sich als Alleinseglerin von Gibraltar zu den Darwin-Inseln aufmacht und nach einem Sturm in der Ferne ein seeuntüchtiges Flüchtlingsboot vor sich sieht. Die über Funk alarmierte Küstenwache warnt sie davor, sich dem Boot zu nähern. Das würde nur dazu führen, dass die in Seenot Geratenen von Bord sprängen; ihre Segeljacht sei aber für ein Rettungsmanöver zu klein. Hilfe wird angekündigt, bleibt aber aus. Mit einem klaren Erzählkonzept bricht Fischer das hochpolitische Thema auf einen ganz persönlichen Entscheidungsprozess herunter und verweigert sich mit erstaunlicher Konsequenz einfachen Lösungskonzepten.

Wolfgang Fischers „Styx“ ist von nachhaltiger Intensität

Dabei wird „Styx“ nie zum Thesenfilm, sondern macht in meditativer Ruhe zunächst mit Schönheit und Gefahr der Meereselemente vertraut und baut seine starke, weibliche Hauptfigur in ruhigen Beobachtungen auf, bevor deren moralische Integrität auf den Prüfstand gerät. Ein stiller, klug konstruierter Film von nachhaltiger dramatischer Intensität, den man sich auch gut im Wettbewerb hätte vorstellen können. Dort hat man allerdings mit vier deutschen Beiträgen die Heimspiel-Obergrenze bereits erreicht. Wirklich bärenverdächtige Ware war am Wochenende im Wettbewerb noch nicht in Sicht.

Benoît Jacquots behäbiger Erotik-Thriller „Eva“ mit Isabelle Huppert als Edel-Prostituierte enttäuschte ebensowie der schwedische Beitrag „Real Estate“ von Axel Petersén und Måns Månsson, der zwar über eine schrille, ältere Frauenfigur verfügte, sich aber allzu selbstgefällig in seinem zynischen Blick auf die habgierigen Zustand der Gesellschaft sonnte.

Deutlich überzeugender fiel da schon „Dovlatov“ des russischen Regisseurs Alexey Germans aus. Das Porträt des Schriftstellers Sergei Dovlatov wird zu einem atmosphärisch dichten Sittengemälde der Sowjetunion der siebziger Jahre ausgeweitet, wo die verbotenen Autoren der Breschnew-Ära in den Transit-Räumen der russischen Geschichte vergeblich auf Erlösung hoffen.