Gestern Hartz IV, heute im TV, bald ein Star in den USA? Der steile Aufstieg der Cindy aus Marzahn.

Stuttgart - Pink, sagen Psychologen, senke den Blutdruck. Wenn das stimmt, ist Deutschlands TV-Unterhaltung wohl reif fürs Krankenhaus. Ihre Zukunft ist pink, pummelig und pragmatisch. Obendrein trägt sie einen Jogginganzug. Bis vor kurzem galt das noch als No-Go. Aber da war das Fernsehen auch noch nicht cindy-fiziert. Da hätte kaum jemand für möglich gehalten, dass das ZDF die Rettung von Europas erfolgreichster Unterhaltungsshow „Wetten, dass. . ?“ einer Komikerin anvertrauen würde, die Klamotten in Übergröße trägt und auch sonst nicht ins Klischee der Assistentin passt.

 

Inzwischen sind die natürlichen Abwehrkräfte der Zuschauer gegen den Jogginganzug geschwunden. Die Akzeptanz dieses modischen Rückfalls in die Steinzeit stieg im gleichen Maße wie der Bekanntheitsgrad der Frau, die diesen ästhetischen Tabubruch sanktionierte. Think Pink. Inzwischen ist es sogar bis nach Hollywood vorgedrungen, dass eine gewisse Cindy aus Marzahn im Begriff ist, die zur Hypertonie neigende TV-Unterhaltung zu kurieren. Dass sie demnächst nach „Wetten, dass. . ?“ sogar einen ganzen TV-Sender wieder flottmachen soll: Sat 1.

Nicht ohne Stolz hat der Sat-1-Chef Nicolas Paalzow den gewichtigen Neuzugang gerade als Aushängeschild des Senders verkauft. Der Sender ringt um ein Profil. Die Kunstfigur der pinken Plattenbau-Prolette soll ihm helfen, sich jünger und weiblicher zu positionieren. Wer Amerikas Teenie-Idol Justin Timberlake auf dem „Wetten, dass. . ?“-Sofa ein Polaroid-Foto von sich als Souvenir aufdrängt und ihm dafür ein ergeben dahingehauchtes „perfect!“ entlockt, dem traut man auch unmögliche Missionen zu. Halb belustigt, halb ehrfürchtig spricht man in den USA von der „Princess of the Plattenbau“.

Sie jammert wenigstens nicht

Cindy zerrt Ilka Bessin aus ihrem Loch heraus

42 Jahre alt, 1,90 Meter groß, Schuhgröße 44. Geboren 1971 im brandenburgischen Luckenwalde als Ilka Bessin. Clown, das ist ihr Berufsziel. Sie erreicht es über Umwege, nach einer Lehre zur Köchin im VEB Wälzlagerwerk, nach Jobs als Kellnerin, Barchefin, Animateurin und Jahren der Arbeitslosigkeit. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Der Alltag zwischen Rudis Resterampe und Job-Center. Der Frust. Ihre Fress-Attacken. 2005 redet sie zum ersten Mal öffentlich darüber, auf der Bühne des Quatsch-Comedy-Clubs in Berlin.

Sie nennt sich Cindy. Ihr Alter Ego ist lauter, frivoler und schriller als sie, aber genau dafür liebt sie das Publikum. Die Kunstfigur ist geboren. Cindy zerrt Ilka aus ihrem Loch heraus. Optisch entspricht sie zwar dem Klischee der Hartz IV-Empfängerin in ihrer Hängematte. Doch eines unterscheidet sie von den Chantalles und Cheyennes, die sich als Gäste im Nachmittagstalk entblößen. Sie jammert nicht. Sie kämpft um ihr Recht auf ein kleines bisschen Pink, auf eine Dauerkarte fürs Solarium oder einen Mann, der unaufgefordert ein Deo benutzt. Und deshalb hören ihr viele zu, erst in ihren Live-Shows, dann auch im Fernsehen, als Gastgeberin der Comedysendung „Cindy und die Jungen Wilden“ (RTL) oder als Stammgast der Comedy-WG in der „Schillerstraße“ (Sat 1).

Diese Frau schont niemanden, am allerwenigsten sich selber. Man lacht nicht über sie, man lacht mit ihr. Und es lachen auch solche, die sich heute noch in der Illusion wiegen können, dass Stütze nur was für Cindys ist, aber nicht für sie. Ein trügerischer Glaube. Schon hört man es knacken im Gebälk des Sozialstaates. Das ist der Sound, der Cindys Siegeszug untermalt. Die Antwort auf die Frage, warum sich der Reiz der Kunstfigur immer noch nicht abgenutzt hat. Warum sie jetzt sogar Anfragen aus den USA bekommen haben soll, vom Broadway oder von Jay Leno, dem berühmte Late-Night-Talker.

Die drollige dicke Dame

Cindy aus Marzahn als Gegenmodell zu Heidi Klum

Deutschlands erfolgreichste Komikerin suggeriert, dass man sich die Zukunft auch dann noch pink ausmalen kann, wenn man schon ganz unten ist, wenn der Tuschkasten nur noch düstere Farben bereithält. So etwas hört man gerne in den USA, wo der Mittelstand schon stärker weggebröckelt ist als in Europa.

Die Geschichte der Stehauffrau passe perfekt zu dem amerikanischen Mythos, dass es jeder zum Millionär schaffen könne, wenn er nur an sich selber glaube und hart genug arbeite, sagt Nicholas Kulish. Als Leiter des Berlin-Büros der New York Times hat er seinen Teil dazu beigetragen, dass sich US-People-Magazine plötzlich für die drollige Dicke interessieren. Schließlich hat er ihr jüngst ein Porträt gewidmet – Titel: Komikerin aus Versehen.

Die Frau, die als Assistentin von Markus Lanz bei „Wetten, dass. . ?“ anfing, dem Gastgeber aber längst die Show gestohlen hat, spricht nur gebrochen englisch, doch wen stört das? Ihren amerikanischen Gästen imponiert sie gerade mit ihrem Mut zur Lücke und zur Hässlichkeit. Eigenschaften, die den „Krauts“ in Amerika bislang nicht nachgesagt wurden.

Die Kunstfigur füllt das Theater ihres Heimatorts

„Cindy ist das Gegenmodell zu Heidi Klum“, sagt Elisabeth Herzog von der Heide (SPD). Als Bürgermeisterin von Luckenwalde muss sie es wissen. Es ist die Stadt, die diese Kunstfigur hervorgebracht hat. 21 000 Einwohner, ein Theater, achthundert Plätze. Neulich war es an zwei aufeinanderfolgenden Abenden ausverkauft. Cindy aus Marzahn war zu Gast. Sie erzählte von ihren ersten Tanzversuchen und von ihrem geplatzten Traum von einer Karriere beim legendären MDR-Fernsehballett.

In Luckenwalde sprach sie vielen aus der Seele. Die Mutmacherin. Nur einige fragten sich besorgt, wie das gehen solle: Cindy am Broadway. Schon boten sich Fans an, ihr einen Sprachkurs zu spendieren. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn Cindy in den USA shoppen will und der Kauf eines neuen Jogginganzugs ausgerechnet daran scheitern sollte, dass ihr nicht die richtigen Worte einfallen. „Gibt‘s den auch in pink?“