Diese Schule hat Räder. Ständig ist sie unterwegs. Seit mehr als 100 Jahren werden die Kinder der Mitarbeiter des Circus Krone in einer eigenen Schule unterrichtet. Gerade steht sie in Stuttgart. Ein Besuch.

Stuttgart - Joaquin wird heute noch fliegen. In wenigen Stunden wird er mit seinen Eltern Guilherme und Evelyn Zuniga in der Manege auftreten. Am Trapez wird er Schwung holen, loslassen, schweben und von seinem Papa aufgefangen werden. Das alles in zehn Meter Höhe. Er ist Artist in Europas größtem Zirkus. Aber er ist auch erst zwölf Jahre alt. Und muss in die Schule gehen. Jeden Vormittag, auch samstags, führt ihn sein Weg in den Wagen mit der Nummer 49 – die Circusschule. Nachmittags fliegen, morgens Mathe. Das ist sein Alltag.

 

Vorne ist das Klassenzimmer, hinten die Lehrerwohnung

Drei Kinder unterrichtet Lehrerin Christina Kretschmann gerade. Auf Deutsch, manchmal auch auf Englisch, wenn die Kinder von Artisten mit kurzen Engagements auftauchen. Die bringen dann ihre Schulbücher mit. Doch die Kinder seien Sprachkünstler, sagt Kretschmann, nicht selten ist, dass sie mehrsprachig sind. Wie Joaquin, er spricht Deutsch, Portugiesisch und Italienisch. Seit vier Jahren ist Kretschmann beim Circus Krone angestellt. Zuvor war sie an Regelschulen, doch zum Ende ihrer beruflichen Karriere wollte sie noch mal etwas anderes machen. „Ich habe den Zirkus schon immer geliebt“, sagt sie, „hier habe ich weniger Kinder, komme herum, bin mein eigener Herr; ich mache alles vom Schuldirektor bis zum Hausmeister.“ Und sie wohnt in ihrer Schule, hinten im Wagen ist das Klassenzimmer, vorne ihre Wohnung.

Ruhe hat sie also selten. Michael Widmann kennt das. „Wenn ich nachmittags in Ruhe lesen wollte, kamen die Kinder und fragten: was machen Sie?“ Widmann ist Bereichslehrer für Kinder und Jugendliche von beruflich Reisenden. So heißt das offiziell. Gemeint sind die Kinder von Schaustellern, Artisten und Zirkusleuten. Früher war er vier Jahre Lehrer beim Circus Krone.

Besuch vom alten Lehrer

Als der Circus jetzt nach 15 Jahren wieder in Stuttgart ist, schaute er vorbei, bei seinen Kindern. Wobei die meisten längst erwachsen sind. Doch vor dem Treffen hilft er Alexis (9) erst mal beim Rechnen. Alexis ist auch schon aufgetreten. Als Dompteur, mit einem Pony. Kein Wunder bei den Eltern. Mama Jana Mandana-Krone ist die Zirkuschefin und lässt Hengste tanzen, Papa Martin Lacey Jr. dirigiert Löwen und Tiger. Da scheint die Karriere vorgezeichnet. Doch Alexis will lieber „Fußballer oder Boxer“ werden. Tyrone Jahn-Munoz muss lachen, als er das hört. Da ist Alexis beleidigt. „Du wolltest doch auch Fußballer werden“, sagt er. Ein Kindertraum. Nun ist Tyrone Artist. Wie seine Eltern. Mama Tanja ist eine Nachfahrin von Turnvater Jahn, war Trapezkünstlerin, arbeitet nun hinter den Kulissen. Vater Celestino ist Lichtdesigner bei Krone. Bruder Sven tritt mit Nicolai Hueska als Strapatenduo Gravity auf. Nicolai ist der Sohn des Clowns Fumagalli und der Bruder von Stefano, der momentan in die Circusschule geht. Eine besondere, eine kleine Welt. Tyrone: „Wir sind eine große Familie mit allem, was dazugehört, da kracht es auch mal.“

Wer dazukommt, wird erst mal geprüft. Widmanns erste Fahrt mit dem Circus Krone war eine denkwürdige. Damals war die Schule noch in einem uralten Unimog. Den fuhr er samt Wohnwagen nach Altötting. „Dann kam ich im Radio, weil ich die Landstraße blockierte“, erinnert er sich. Der Tank war leer. Die Tankanzeige war hinüber gewesen, gesagt hatte ihm das niemand. Hinterher bekam er dann gute Ratschläge: Du musst einen Grashalm reinhängen, dann siehst Du, ob noch Diesel da ist. Schließlich kam er mitten in der Nacht an. Er wollte das Wasser aufdrehen, nicht ahnend, dass er erst den Druck ablassen musste. Das Ende vom Lied: Er stand patschnass vor seinem Wohnwagen. „Alle hingen an den Fenstern und schauten zu.“ Es wurde gewettet, ob der neue Lehrer morgen auch noch da ist. Er blieb. Und kommt gerne wieder.

Ivana hat Abitur gemacht und studiert nun Jura

Er freut sich, Tyrone, Sven und Dimi zu treffen, die bei ihm einst in die Schule gingen. Ivana ist zu Besuch da, ihre Mutter arbeitet im Zirkusbüro. Sie studiert Jura. Vier Jahre ging sie in die Circus-Schule, dann war klar, „das Mädchen muss Abitur machen“, erinnert sich Widmann. Das allerdings geht nur auf einem Gymnasium. Grundschule, Hauptschule, Realschule, deren Inhalte unterrichten sie auf Reisen. Nach bayerischen Lehrplänen. Denn im Winter ist der Circus fünf Monate fest in München. Dann gehen die Kinder in ihre Stammschulen. Ivana zog also nach der vierten Klasse zu Opa und Oma nach München, machte dort ihr Abitur. Und ist damit ein Vorbild für Janine Pilz. Mutter Nina arbeitet im Büro, bisher ging Janine in die Circusschule. Nun lebt sie bei den Großeltern in München. Auch sie will ihr Abi machen. Mit dem Lernstoff kommt sie gut zurecht, doch dass 25 Kinder in der Klasse sitzen, sei ungewohnt. Wenn sie den Lehrer sagt, sie habe was nicht verstanden, sagt der: schau in Dein Buch. Anders als früher, als der Lehrer alles erklärt hat. So lange, bis die Kinder es kapiert haben. So gerüstet, kann man dann auch fliegen lernen.