Der Autokonzern ist nicht weit: In einem leerstehenden Gebäude im Stuttgarter Osten bringt das Citizen-Kane-Kollektiv an diesem Freitag sein Theaterprojekt „Die Stille der Stadt“ heraus.

Stuttgart - Schmuckloser als hier ist die Stadt nirgends: Die Gegend um den Gaskessel im Stuttgarter Osten toppt an Trostlosigkeit die Stuttgarter Neckarstraße bei weitem – was etwas heißen will, schließlich war die Gegend ums SWR-Funkhaus die Inspirationsquelle für Samuel Becketts große Hymne an das Nichts. Tauscht man in seinem Kurzgedicht die Straßennamen aus, weiß man, wo die Performer des Citizen-Kane-Kollektivs jetzt atmosphärisch gelandet sind: „Vergesst nicht beim Stuttgart-Besehen/ die Rotenbergstraße zu gehen./ Vom Nichts ist an diesem Ort/ der alte Glanz lange fort./ Und der Verdacht ist groß:/ hier war schon früher nichts los“ – unweigerlich kommen einem diese leicht modifizierten Verse in den Sinn, wenn man sich dem Gebäuderiegel nähert, der gegenüber dem Gaskessel in der Rotenbergstraße 170 liegt.

 

Hundert Meter lang ist das Gebäude, mit Flachdach, aufgereihten Fenstern an der Vorderfront und einem absolutem Mangel an Charme und Charakter – der Glanz ist auf immer fort von diesem Ort, was aber dem neuen Projekt von Citizen Kane nicht zum Nachteil gereicht: „Die Stille der Stadt“ hat an diesem Freitag Premiere und entwirft in vielen Szenarien das Bild einer untergehenden Metropole, das Panorama einer urbanen Dystopie, für die der Rotenberg-Nichtort tatsächlich wie geschaffen ist. Dreizehn leere Räume warten hier darauf, vom Künstlerkollektiv mit Performances und Ausstellungen, Installationen und Diskussionen zum apokalyptischen Thema bespielt zu werden.

Stummer Riese im Nachthimmel

Im dritten Stock des entmieteten Gebäudes befindet sich die Citizen-Kane-Bar. Übrig geblieben ist sie von einer Wohnung, die neben Kleingewerbe, einer Weinstube und einer Arztpraxis in diesem Betonkasten untergebracht war. Die Bar ist zur Wohnhöhle umgebaut worden – und der Blick aus dem Fenster ist fantastisch und für die „Stille der Stadt“ programmatisch zugleich. Vorbei am Gaskessel, der wie ein stummer Riese in den Himmel ragt, geht er hinüber zur Mercedes-Benz-Arena, zum Mercedes-Benz-Museum und zu den Motorenwerken, denen Museum und Arena ihre Existenz zu verdanken haben. „Stuttgart lebt von der Autoindustrie“, sagt Christian Müller, Regisseur des Citizen-Kane-Kollektivs, „wir aber fragen uns, was geschieht, wenn die klassische Industrie verschwindet.“

Antworten darauf hat er in der Autostadt Detroit gefunden, wohin er im Sommer zur Recherche reiste: eine Stadt, deren Infrastruktur für zwei Millionen Menschen ausgelegt ist, in der aber nur noch 600 000 leben. „Der Niedergang ist an allen Ecken und Enden greifbar“, sagt der Forschungsreisende, „Industriebrachen, verfallende Stadtviertel, keine Supermärkte und Lebensmittel nur noch an der Tanke.“ Niederschmetternde Eindrücke seien das gewesen, „doch wenn man erkennt, was hier schiefgelaufen ist“, fährt Müller fort, „kann man es andernorts vielleicht verhindern“ – zum Beispiel in Stuttgart, das noch immer in der Komfortzone liegt und vom Kollektiv zu Erkenntniszwecken in eine ungemütliche Zukunft katapultiert wird.

„Kollektiv“ – mehr als ein schickes Label

Was die Truppe in ihren Wunderkammern zu bieten hat, weiß man noch nicht. Aber dass sie mit originellen Spielweisen ihr Publikum ästhetisch und intellektuell herausfordert, hat sich seit ihrer Gründung 2014 herumgesprochen. Wie in einem Kaleidoskop bilden sich in ihrem Diskurstheater immer neue inhaltliche Muster, die von den Performern, Tänzern und Musikern lustvoll erzeugt werden. Der entfesselten Spielfreude merkt man überdies an, dass Citizen Kane den Namenszusatz „Kollektiv“ nicht nur als schickes Label verwendet: Die verschiedenen Künste wirken tatsächlich produktiv zusammen, was zuletzt auch in der Prostitutionsstudie „Girls Boys Love Cash“ zu sehen war, wo das Kollektiv die Käuflichkeit des Menschen im Kapitalismus thematisierte – das Stück ist der erste überregionale Erfolg von Citizen Kane und gastiert im Mai beim Jugendtheaterfestival in Berlin.

Nun also „Die Stille der Stadt“ im Stuttgarter Osten, mit der es Ende Januar aber schon wieder vorbei sein wird. So lange läuft der Mietvertrag mit der SWSG, der Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft, so lange also wird das Publikum in der Rotenbergstraße unter anderem durch eine Ausstellung geschleust, in der Christian Müller und Alex Wunsch ihre verblüffenden Fotografien zeigen: der eine aus Detroit, der andere aus Stuttgart, wo das Bürgerhospital schon bessere Zeiten gesehen hat. Da sind die Patienten mittlerweile ausgezogen und haben Platz gemacht für die Gespenster des Leerstands. Die Diagnose lautet auch da: Niedergang.