Claus Peymann inszeniert in Stuttgart, der Stätte seines frühen Ruhms, Shakespeares „Lear“ – und das Publikum sieht konventionelles Erzähltheater und jubelt der Vergangenheit zu.

Stuttgart - Es gibt eine Disziplin, in der es Claus Peymann unbestritten zur Meisterschaft gebracht hat: In der Choreografie des Schlussapplauses macht ihm bis heute keiner was vor. Je länger ein Beifall dauert, desto besser, aber der achtzigjährige Theatermann kann mit seiner fünfzigjährigen Bühnenerfahrung diese Grundregel noch weiter ausdifferenzieren: „Unter fünf Minuten ist freundlich, über zehn ist frenetisch. Bei fünfzehn Minuten beginnt der Triumph“ – und also schickt der Regisseur mit der Stoppuhr im Blut sein Ensemble nach dem fast vierstündigen „Lear“ wieder und wieder auf die Bühne, um die Applauszeit in den Triumphbereich zu treiben. Das gelingt nicht ganz. Trotz aller beifallschindenden Tricks erlahmt das Publikum nach zehn Minuten, laut Applausometer haarscharf an der Grenze zwischen freundlich und frenetisch. Das Frenetische könnte der Lebensleistung von Peymann gegolten haben, das Freundliche seiner harmlos konventionellen Inszenierung im Stuttgarter Schauspielhaus.

 

Doch unabhängig von jeder Kunst ist Peymanns Rückkehr nach Stuttgart ein Ereignis. Von 1974 bis 1979 war er Schauspieldirektor im damals noch so genannten Kleinen Haus und machte Stuttgart zur Hauptstadt der Theaterrepublik. Binnen fünf Jahren wurde sein Schauspiel viermal zum Theater des Jahres gewählt, neun Inszenierungen gastierten beim Berliner Theatertreffen. Keiner seiner Nachfolger hat diese Quote auch nur ansatzweise erreicht. Angebetet wurde Peymann aber auch deshalb, weil er selbst während des RAF-Terrors nicht von seinen Idealen als Achtundsechziger abließ. Künstlerisch und politisch ein Sprachrohr seiner Generation, verabschiedete ihn das Publikum 1979 mit Stunden dauernden, in die Theatergeschichte eingegangenen Ovationen. Auch wenn Peymann als regieführender Intendant in Bochum, Wien und Berlin noch viele Triumphe gefeiert hat, fanden die größten womöglich doch an der Stätte seines frühen Ruhms statt: In Stuttgart wurde er zur Legende.

Peymann oder Learmann?

Man muss an diese Geschichte erinnern, will man den Hype verstehen, den Peymanns Rückkehr nach vierzig Jahren jetzt ausgelöst hat. Fast alle Vorstellungen des „Lear“ sind ausverkauft, die Männer und Frauen von Stuttgart rennen dem Intendanten Armin Petras die Bude ein. An der Kasse werden alle Erwartungen erfüllt, bei den Zuschauern indes nicht unbedingt: Shakespeares Generationentragödie verwandelt sich im Schauspielhaus nämlich keineswegs in ein Schlüsselstück zu Leben und Werk von Learmann, pardon, Peymann, obwohl die Parallelen wirklich auf der Hand liegen. Hier ein König ohne Land, der von seinen Töchtern verstoßen wird, dort ein Theaterdirektor ohne Theater, nachdem er im vergangenen Sommer die Intendanz am Berliner Ensemble abgegeben hat – und auch den Undank der Nachgeborenen erfährt der einst mächtige Theaterkönig insofern, als ihm die Regie-Angebote jetzt eher spärlich ins Haus flattern. „Lear“ ist seine erste Inszenierung überhaupt nach dem ungewollten Abgang vom BE – und doch kein Schlüsselstück für biografische Voyeure, sondern einfach nur „Lear“.

Das – „Einfach nur Lear“ – steht auch titelgebend im Programmheft, das außer ein paar Shakespeare-Texten nichts als Skizzen und Bilder der Inszenierung enthält. Ausholende Erklär-Essays, das Hobby aller Dramaturgen, sucht man darin vergeblich. Das ist kein Zufall, denn auch der Regisseur will in seiner strengen, nur mit wenigen Requisiten arbeitenden Aufführung nichts erklären, sondern in aller Bescheidenheit nur – nur? – alles zeigen: die ganze Tragödie in all ihrer unermesslichen Vielfalt, mit allen Spiegelungen und Verästelungen, Verraten und Intrigen. Kaum ein anderes Shakespeare-Drama führt nämlich mit so düsterer Unerbittlichkeit in den Untergang wie „König Lear“, das Stück ist ein im Vers gebändigtes Naturereignis, das alle menschlichen Abgründe offenlegt: Auf kleinstem Raum erfährt man hier mehr über unser wölfisches Wesen als in achtzig Stunden „Game of Thrones“.

Um Thron und Krone geht es natürlich auch in Shakespeares Story. In der Mitte des schwarzen Bühnenraums von Karl-Ernst Herrmann steht ein schlanker, hoher gelber Stuhl, auf dessen Sitzfläche der königliche Kopfschmuck ruht. Davor kniet im weißen Smoking der – wie Peymann – achtzigjährige Martin Schwab als König Lear und regelt seine Erbschaft. Mit einer Kreide teilt er einen Kreis in drei gleich große Segmente, schließlich sollen seine drei Töchter je ein Drittel des Reichs bekommen. Voraussetzung allerdings: ein zu erbringender Liebesbeweis! Der Dandy-König, nun mit bekröntem Haupt auf dem gelben Stuhlthron residierend, bittet seine Töchter zum Vorsprechen – und abgesehen davon, dass bei diesem Theater im Theater nun doch schalkhaft etwas Learmann aufblitzt, tappt der greise Regent in die Falle. Er erliegt den falschen Schmeicheleien von Goneril und Regan, verkennt aber die wahre Liebe von Cordelia, seiner jüngsten, rhetorisch nicht so versierten Tochter. Im Zorn wird sie vom enttäuschten Vater enterbt und außer Landes geschickt.

Narr in einer absurden Welt

Klar, präzise, mit poetischen Bildern entwirft Peymann die Ausgangslage der Tragödie. Zur Stilsicherheit nicht nur der Ouvertüre tragen auch die Kostüme von Margit Koppendorfer bei: Die Goneril der Manja Kuhl und die Regan der Caroline Junghanns stecken als Damen der Gesellschaft in schicken Abendgarderoben, mit denen sie ihre Heimtücke und Verschlagenheit bestens tarnen können– wobei es vor allem Junghanns ist, die sich im Lauf des Geschehens eine gespenstische Kälte erspielt. Ein darstellerischer Triumph, der allerdings von Lea Ruckpaul in ihrer Doppelrolle getoppt wird. Als Cordelia mit Blondschopf trägt sie ein schmucklos blaues Kleid, als Narr mit brauner Bubifrisur ein Harlekingewand, in den Händen dabei eine winzige Ziehharmonika und einen noch winzigeren Klappstuhl: eine enorme äußere Wandlungsfähigkeit, zu der eine innere hinzukommt, wenn sie die Rolle des backfischhaften Mädchens gegen jene des weisen Narren eintauscht: Dass die Welt, auch die heutige, absurd eingerichtet ist, wirft sie als Narr dem von seinen Töchtern betrogenen, dem Wahnsinn verfallenen Lear mit aller Bestimmtheit an den Kopf.

Aber nicht nur die Familiengeschichte von Lear und seinen Töchtern entfaltet Peymann, sondern auch jene von Gloster und seinen Söhnen, souverän dargestellt von Elmar Roloff, Lukas T. Sperber und Jannik Mühlenweg. Zu Beginn führt er beide Handlungsstränge mit viel Geduld parallel voran, gegen Ende aber treibt er sie mit Hast und vielen Schlaglichtern in die Katastrophe. Kaum einer verlässt diese grausame Tragödie lebend – doch was sich bei Shakespeare von Szene zu Szene zur Apokalypse der Menschheit verdichtet, kommt in Peymanns handwerklich perfektem, aber doch routiniert überraschungslosem Erzähltheater über blutige Moritaten nicht hinaus. Der Inszenierung fehlen Wut, Zorn, Gefahr – und das liegt nicht zuletzt am Titeldarsteller Martin Schwab, den sich Peymann von der Wiener Burg ausgeliehen hat. Der sonst so wunderbare Schauspieler ist ein Tragikomiker von Gnaden, aber für den herrischen Lear fehlt ihm die zerstörerische Energie. Um die Königsrolle mit rasendem Furor auszustatten, ist Schwab zu weich, zu sanft, zu zart: kein Kampfhahn, sondern ein gerupftes Hühnchen mit verwuscheltem Silberhaar.

Schade, aber es ist so: Im Schauspielhaus verkleinert und verharmlost Peymann seinen „Lear“ zu einem Märchen aus mythischer Zeit. Es war einmal: unter diesem Zeichen der grimmigen Behaglichkeit steht aber jenseits der Inszenierung das ganze Gewese des Abends überhaupt. Beim Schlussapplaus jubelt Stuttgart zwischen freundlich und frenetisch auch seiner großen Vergangenheit zu. Sei’s drum.