Betroffene haben in Weilimdorf den 50. Jahrestag der Gründung des Stuttgarter Ortsverbandes Contergan-Geschädigter gefeiert. Ihr letzter Kampf ist noch nicht gekämpft.

Weilimdorf - Unsere Eltern hätten sich nie vorstellen können, dass wir einmal so gut im Sattel sitzen“, sagt Tilmann Kleinau. Jetzt, da die Feier so langsam ausklingt, sitzt er mit seinen drei Vorstandskollegen recht aufgeräumt am Kaffeetisch des Hotels Holiday Inn in Weilimdorf: „Ja, wir haben gefeiert, richtig gefeiert“, bestätigen sie. Immer wieder kommt im Gespräch die Rede auf die Eltern des Quartetts, die im Geiste mit am Tisch sitzen. Denn ihretwegen konnte heute gefeiert werden: Sie hatten vor 50 Jahren unterm Dach der Interessengemeinschaft Contergangeschädigter Baden-Württemberg den Ortsverband Stuttgart e.V. gegründet.

 

Die Bedeutung dieser Gründung beschreibt Wolfgang Tegtmeyer vorneweg vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund: „Es war ja erst ein paar Jahr her, dass behinderte Kinder entsorgt wurden“, wie er sagt, „es gab Kriegsversehrte, aber Behinderte wurden versteckt. Und dann waren es plötzlich Tausende.“ Opfer eines Medikamentes, das als harmloses Beruhigungsmittel rezeptfrei verkauft wurde: Contergan. Laut Werbung „harmlos wie ein Zuckerplätzchen“. Von Schwangeren eingenommen, hat es aber den Fötus schwer geschädigt. Und wenn es nicht zu Totgeburten kam, waren die Kinder gezeichnet für ihr Leben. Mit verkürzten und verstümmelten Armen und Beinen etwa.

Schweres Schicksal auch für die Eltern

Ein schweres Schicksal, auch für die Eltern der schwerstbehinderten Kinder. „Wie können Sie sich trauen, mit so einem Kind zum Einkaufen zu gehen?“, wurde Kleinaus Mutter entgegen gehalten. Er erinnert sich noch gut daran. So einen Satz vergisst man nicht. „Wir galten als Missgeburten. Aber unsere Eltern haben sich zusammengetan und für ihre Kinder gekämpft“, betont Tegtmeyer. Nicht zuletzt dafür „dass wir nicht auf die Hilfsschule mussten, sondern in Regelschulen lernen konnten“. Später kam der Kampf um einen Ausbildungs- oder Studienplatz hinzu. So wurde der Ortsverband zu einem Sammelpunkt für betroffene Eltern. Er hat dazu beigetragen, dass wir im Rahmen unserer Möglichkeiten ein normales Leben führen konnten.“ Tegtmeyer etwa arbeitet bis heute im Bankwesen, seine Vorstandskollegin Ursula Sievert-Pozybill im höheren Verwaltungsdienst bei der Stadt Stuttgart. Petra Schad wiederum hat Geschichte und Romanistik studiert und ist bis heute im Archivwesen beschäftigt: „Trotz der Behinderung lebe ich gerne und freue mich des Lebens“, betont sie. Romanistik und Anglistik hat Kleinau studiert, aber trotz Promotion „immer nur Zeitverträge bekommen“, erzählt er. „Dann habe ich mich als Übersetzer selbstständig gemacht.“ Im Übrigen spiele er „in einer richtigen Rockband“.

Der Ortsverband wurde aber nicht nur für ihre Eltern eminent wichtig, sondern im Laufe der Zeit auch für die Contergan-Geschädigten selbst, die heute 57 und 58 Jahre alt sind: „Man weiß, dass man nicht allein ist“, sagt Schad und ergänzt: „Der Verein hat unseren Eltern unheimlich Mut gegeben, auch uns allen. Wir müssten ja sehr kämpfen, um einen Platz in der Gesellschaft zu finden.“

Leben voller Fehlbelastungen

Ganz ist der Kampf noch immer nicht zu Ende. „Man muss sich klar machen, wie wir gelebt haben. Ich ziehe meine Strümpfe mit den Füßen an und aus“, sagt Tegtmeyer, „man steht mit einem Bein vor der Tür, und versucht, sie mit dem anderen zu öffnen. Wir haben ein Leben voller Fehlbelastungen hinter uns“. Die Folge: „Schäden an Wirbelsäule, Gelenken und Muskulatur, die einen ständig steigenden Bedarf an pflegerischen und therapeutischen Leistungen erfordern.“ Und das betreffe alle Contergan-Geschädigten. Etwa 60 sind es noch in Stuttgart. Doch der Ortsverband denkt dabei auch an ganz Baden-Württemberg, denn bei diesem Thema sehen sie noch einen „letzten Kampf“ vor sich: „Wir wollen in Stuttgart ein medizinisches Zentrum zur Behandlung von Betroffenen“, erklärt Tegtmeyer. Als Abteilung einer Klinik etwa, mit „zwei, drei motivierten Ärzten, die dies als Spezialisierung in ihr Portfolio aufnehmen“. Es fehle an medizinischem Austausch, an der „Konzentration von Kompetenz, wie wir sie brauchen“. Nun gehe es für Contergan-Opfer nicht mehr allein darum, „im Alltag zu bestehen, sondern darum, dass auch wir selbstbestimmt in Würde altern können“. Es habe bereits „viele gute Gespräche gegeben und wohlwollendes Interesse. Mehr aber nicht.“ Er lacht und sagt: „Wir bräuchten einen Sponsor.“ Dann wird er wieder ernst – und mit seinem Schlusssatz schließt sich der Kreis zu dem, was die Eltern vor 50 Jahren gebraucht und eingefordert hatten: „Wir brauchen Hilfe.“

Katastrophaler Irrtum

Als „Aspirin des kleinen Mannes“ war das Medikament Contergan vom Hersteller Grünenthal beworben worden, „harmlos wie ein Zuckerplätzchen“ sei das Beruhigungsmittel, das rezeptfrei zu haben war. Entsprechend beliebt war es bei Schwangeren, die Contergan gegen Übelkeit einnahmen, vor allem in der Frühphase der Schwangerschaft. Bis Ende der 1950er Jahre wurde Contergan gezielt als Beruhigungs- und Schlafmittel für Schwangere empfohlen. Dann aber stellte sich die vorgebliche Harmlosigkeit als ein buchstäblich katastrophaler Irrtum heraus: Der Wirkstoff Thaliomid hat den Embryo schwer geschädigt und so zwischen 1957 und 1962 zu ungezählten Totgeburten geführt – und zu Tausenden missgebildeten Babys. Contergan wurde so zum Synonym für den größte Pharma-Skandal der Nachkriegszeit. Skandalös war auch der Umgang damit. Erst nach jahrelangen Auseinandersetzungen kam es zu Ausgleichszahlungen, die aber schon Anfang der 1980er Jahre aufgebraucht waren: „Man ging davon aus, dass wir alle früh sterben“, sagt Wolfgang Tegtmeyer, selbst Betroffener, vom Stuttgarter Ortsverbandes Contergan-Geschädigter. Die Selbsthilfegruppe besteht jetzt seit 50 Jahren. Kontakt via E-Mail an Wolfgang.Tegtmeyer@contergan.de