An diesem Samstag feiert das neue Stuttgarter Opernteam mit Wagners „Lohengrin“ seine erste Premiere. Am Pult steht mit Cornelius Meister (38) ein Generalmusikdirektor, der genau weiß, was er will – und was nicht. Ein Besuch, bei dem die Zeit verfliegt, der bereichernd ist und herzerwärmend.

Stuttgart - Entschuldigung, ruft der Mann am Klavier, und nochmals: Entschuldigung! Zwei Minuten, fragt er freundlich, nur zwei Minuten möge ihm die Besucherin, die durch nicht enden wollende, labyrinthische Flure in das Probenzimmer gelangt ist, noch schenken. Dann wendet sich der schlanke Mann, der dem Aussehen nach auch ein Korrepetitor nach gerade erst beendetem Bachelorstudium sein könnte, wieder den vier Stimmführern zu, die er geladen hat, „ganz außerhalb der Probenzeiten“ ein wenig mit ihm zu musizieren, sich also beispielsweise heran zu tasten an Mahlers siebente Sinfonie, und sich auf diese Weise ein wenig kennenzulernen, spielerisch, einfach so.

 

Die spontan anberaumte Probe, bei der das Klavier die Stimmen der Bläser und des Schlagwerks übernimmt, endet mit Handschlag und warmen Dankesworten für die vier Streicher, mit allgemeinem Lächeln und der herzlichen Bitte des Konzertmeisters, vor der ersten Probe zum Antrittskonzert des neuen Stuttgarter Generalmusikdirektors unbedingt noch einmal zusammenzukommen. „Ich spüre ein Fieber in diesem Orchester“, sagt Cornelius Meister später. Da hat er die die Besucherin schon zurück geleitet durch die verwinkelten Gänge, ist bei jeder Tür voraus gesprintet, um diese für sie zu öffnen. Er ist ein junger Kavalier jener alten Schule, zu deren Tugenden auch eine ausgeprägte Sprachsensibilität gehört. „Mannigfach“ sagt er zum Beispiel gern und oft; es ist ein schönes, fast vergessenes Wort.

Schließlich hat er in seinem Zimmer auch den Stuhl zurechtgerückt, auf dem die Besucherin sitzen soll, eines von sechs oder sieben sehr unterschiedlichen (und sehr bunten) Sitzmöbeln, die alle so aussehen, als stammten sie aus einem Theaterrequisitenlager. Das tun sie tatsächlich: Mitsamt dem langen Holztisch hat Meister die ausgemusterten Exemplare aus dem Zentrallager der Staatstheater geholt.

Möbel aus dem Zentrallager der Staatstheater

Der lange Tisch stand mal in Gogols „Toten Seelen“ auf der Bühne; jetzt liegt ein stummes Klavier darauf. Cornelius Meister, der nicht nur Dirigent, sondern auch ein ausgebildeter Pianist ist, greift in die Tasten, das Holz klackert, und: oh, wie schön dieses Orchester doch klingt! Schwärmt der 38-Jährige – und betont, dass auch Franz Liszt, den er so mag, eine solche Tastatur besessen und geliebt habe.

Auf der seinen greift Meister Akkorde von Richard Wagner. Dass die Staatsoper Stuttgart nach Achim Freyers Kult-Inszenierung des „Freischütz“ als Auftakt ausgerechnet mit Wagners „Lohengrin“ in eine neue Ära startet, hat gleich mehrere gute Gründe. Der erste, äußere, ist ein historischer: 1912 wurde der Littmann-Bau mit diesem Stück eröffnet, und es ist ein Ziel des neuen Leitungsteams, an die große Tradition des Hauses, also auch an das einstige „Winter-Bayreuth“, anzuknüpfen. Der zweite, vielleicht noch wichtigere Grund ist das im Stück thematisierte Frage- und Denkverbot. Cornelius Meister nimmt es gemeinsam mit dem Intendanten Viktor Schoner zum Ausgangspunkt eigenen Fragens. Was will, was kann das Musiktheater? Aber auch: Was kann, was sollte eine humane Gesellschaft auszeichnen? Vor allem diese Frage treibt den Dirigenten um, und da ist er ganz nah bei Árpád Schilling, dem Regisseur des „Lohengrin“, der es sich mit seiner Truppe Kreidekreis zur Aufgabe gemacht hat, das demokratische Zusammenleben spielerisch zu reflektieren.

Musiktheater als Teamwork

Cornelius Meister führt diese Gedanken nicht direkt aus. Aber man spürt sie, wenn er sagt: „Kammermusik ist der Kern der Musik“. Oder: „Musiktheater ist Teamwork“. Oder „Das Haus ist immer am wichtigsten“. Das sind bei ihm keine Klischees. Sondern Sätze, die für ein Arbeitsethos stehen. Dieses schlägt sich nieder in der Art, wie er mit jedem Sänger einzeln arbeitet, mit dem Chor. Es zeigt sich auch darin, dass er sehr frühzeitig schon Konzeptionsgespräche des gesamten Produktionsteams einfordert, dass er sich dagegen wehrt, Inszenierung, Bühnenbild und Musik in einer Oper strikt voneinander zu trennen, und dass er den Genius loci wertschätzt (erst in Wien, sagt er, habe er sich getraut, Gustav Mahlers Sinfonien zu dirigieren). Man spürt dieses Ethos, wenn man hört, dass er jetzt beim „Lohengrin“ jede (!) Orchesterstimme selbst eingerichtet, also mit Notizen versehen hat (diese Eigenart, sagt Meister, habe er vom großen Carlos Kleiber übernommen, der ja auch in Stuttgart Spuren hinterließ). Und diese Haltung äußert sich schließlich auch in Meisters Art des Musikbetrachtens: also etwa in seinem Blick auf die vielfache Differenzierung zwischen Solo und Chortutti im „Lohengrin“, überhaupt die feinen Beziehungen zwischen Sprache und Musik bei Wagner, dessen Texte immer auch schon Musik seien.

Womöglich wählte man den „Lohengrin“ in Stuttgart auch deshalb aus, weil das Stück so leise, so still beginnt. Sein filigranes Vorspiel kann einen Anfang markieren – nur eben nicht so radikal wie das Werk, mit dem Meister sein erstes Sinfoniekonzert mit dem Staatsorchester am 7. Oktober beginnen wird: John Cages „4‘33‘‘ trägt seine Länge im Namen und besteht ansonsten: aus nichts. Nein, richtiger: aus einer Stille, die nur von den Geräuschen des Publikums durchbrochen wird. Zuhören will Cornelius Meister nämlich selbst. Viel, sehr viel will er in Stuttgart präsent sein, wo er mit seiner Frau und seinen drei Kindern schon seit einem Jahr lebt und durch das er gerne mit dem Fahrrad fährt und joggt, auch „um darüber nachzudenken, was ich schön finde“.

Alles ist möglich – man muss nur darüber reden

Zwischendurch gastiert er auswärts. Zuletzt ist er zwischen den „Lohengrin“-Proben immer mal wieder nach Zürich gereist, um dort Mozarts „Così fan tutte“ einzustudieren: zwar ohne den Regisseur Kirill Serebrennikow, der immer noch in Moskau in Hausarrest ist. Er sei aber „in ständigem Mail-Dialog mit ihm, sicher jenseits des Erlaubten - bestimmt werde ich auch schon überwacht, aber ich habe keine Angst.“ Premiere ist im November.

Hier wie dort gelten für den Dirigenten zwei Devisen: „Geht nicht, gibt’s nicht“ und „Musiktheater darf nie ein Kompromiss sein“. Dialoge, sagt er, müssten geführt, Konzepte überdacht werden, immer wieder, bis etwas Gemeinsames gefunden sei. Und was den „Lohengrin“ betrifft, so gehöre unbedingt auch der geschlossene Vorhang beim Vorspiel mit zur Inszenierung, denn es gehe immer um den Eindruck und die Klangdramaturgie eines ganzen Abends.

Sagt’s, und dann will besteht er darauf, die Besucherin bis vor die Tür hinaus zu geleiten und dann auch noch ihre leer getrunkene Kaffeetasse selbst wegzuräumen. Teodor Currentzis, erzählt er dabei, habe übrigens neulich auch bei seiner Probe vorbeigeschaut; man habe sich gut verstanden. O reiches, glückliches Stuttgart!