Berlin nimmt die Enthüllungen „sehr ernst“. Großbritannien streicht Türkei von der Liste sicherer Reiseländer – und viele Urlauber versuchen, vor dem Beginn der Quarantäne nach Hause zu kommen.

Ankara/Berlin/London - Nachdem die türkische Regierung eingeräumt hat, bei der Veröffentlichung der täglichen Corona-Zahlen zu schummeln, wird jetzt das tatsächliche Ausmaß der Pandemie im Land bekannt. Nach Angaben von Gesundheitsminister Fahrettin Koca liegt die Zahl der neuen Infektionen derzeit bei etwa 10 000 täglich – die offizielle Statistik registriert aber nur jene 1400 Patienten pro Tag, die medizinisch behandelt werden.

 

Wegen der hohen Zahlen hat Großbritannien die Türkei von der Liste sicherer Reiseländer gestrichen – Tausende britische Urlauber, die derzeit in der Türkei sind, müssen nach ihrer Heimkehr in Quarantäne. Das Auswärtige Amt in Berlin nimmt die Enthüllungen in der Türkei „sehr ernst“, hat die Reisehinweise für die Türkei bisher aber nicht verändert. Die Weltgesundheitsorganisation ruft die Türkei auf, die Corona-Zahlen nach den Standards der UN-Organisation zu veröffentlichen.

Ärzte fordern Rücktritt des Ministers

Vorige Woche hatte Koca unter dem Druck der Opposition zugeben müssen, dass die Regierung seit Ende Juli in ihrer öffentlichen Corona-Bilanz nicht mehr die Zahl der positiv Getesteten verzeichnet, sondern nur noch Patienten, die zu Hause oder im Krankenhaus behandelt werden müssen. Der türkische Ärztebund forderte darauf den Rücktritt des Ministers, weil er die Öffentlichkeit hinters Licht geführt habe. Koca rechtfertigte sein Vorgehen mit dem Argument, der Schutz „nationaler Interessen“ sei genauso wichtig wie der Gesundheitsschutz für die Bevölkerung. Die Opposition vermutet, dass die Regierung die Zahlen schönt, um neue Beschränkungen für die ohnehin krisengeschüttelte Wirtschaft zu vermeiden.

Nach wie vor schweigt Koca dazu, wie hoch die Gesamtzahl der Positiv-Tests in der Türkei ist. Nun aber gab er dem bekannten Journalisten Muharrem Sarikaya von der Internetzeitung „Habertürk“ detailliert Auskunft über die erhobenen Daten, die Verteilung von Fällen nach Region, Geschlecht und Alter sowie die Nachverfolgung. Auch ihm gegenüber habe Koca nicht offen gesagt, wie hoch die Zahl der täglichen Corona-Fälle denn nun tatsächlich sei, schrieb Sarikaya. Aber aus einigen Angaben des Ministers lasse sich die Dimension erschließen: So berichtete Koca dem Journalisten, dass derzeit etwa zehn Prozent aller Tests in der Türkei positiv ausfallen. Bei zuletzt rund 104 000 täglichen Tests sind das etwa 10 000 neue Fälle jeden Tag.

Britische Türkei-Urlauber müssen 14 Tage in Quarantäne

Die britischen Behörden reagierten schon auf Kocas Eingeständnis vorige Woche und führten am Wochenende eine 14-tägige Quarantäne-Pflicht für alle Reisenden aus der Türkei ein. Bei Verstößen drohen Geldbußen von umgerechnet bis zu 11 000 Euro. Britische Medien berichteten, viele Urlauber in der Türkei hätten daraufhin versucht, ihre Ferien abzubrechen und vor Beginn der Quarantäne nach Hause zu kommen.

In Deutschland sind vier südtürkische Feriengebiete von der Corona-Reisewarnung für das Land ausgenommen. Ob die Erkenntnisse über die tatsächlichen Corona-Zahlen daran etwas ändern werden, ist offen. Im Auswärtigen Amt hieß es, das Ministerium verfolge die Lageentwicklung in der Türkei intensiv und nehme „die entsprechenden Meldungen sehr ernst“. Die deutsche Risikobewertung beachte „neben den amtlich vermeldeten Infektionszahlen auch Erkenntnisse zur Belastbarkeit und Vergleichbarkeit der vorliegenden Daten“.

Mediziner warnt vor einem „Tsunami“

Auch die Weltgesundheitsorganisation ist nicht einverstanden mit Kocas Zahlenspielerei. Nach den Regeln der WHO wird jeder im Labor bestätigte Corona-Fall gezählt, und zwar „unabhängig von klinischen Anzeichen und Symptomen“. Die Organisation forderte nach den Enthüllungen über die türkischen Corona-Zahlen, alle Staaten sollten die WHO-Vorgaben beachten.

Türkische Mediziner befürchten, dass sich die Lage in den kommenden Wochen und Monaten noch weiter verschlechtern wird, auch weil die Grippesaison vor der Tür steht. „Wir stehen vor einem Sturm, einem Tsunami“, sagte Ibrahim Akkurt vom türkischen Ärztebund TTB unserer Zeitung in Istanbul. Sein Verband fordere seit Beginn der Pandemie nachvollziehbare Zahlen von der Regierung. „Leider sehen wir, dass die tatsächliche Lage ganz anders ist, als es in den offiziellen Angaben aussieht.“