In Einrichtungen der Behindertenhilfe sorgt man sich um genügend Schutzkleidung und fragt sich, was aus den Bewohnern im Krankheitsfall wird. In einem Stuttgarter Heim ist ein Mitarbeiter infiziert. Die dort lebenden Menschen sind bereits jetzt von den Corona-Schutzmaßnahmen verstört.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Das Coronavirus stellt den Alltag auf den Kopf. Das ist für viele belastend – für manche aber unerträglich. In den Zimmern der beiden sozialtherapeutischen Heime St. Damiano der Stiftung Liebenau in Bad Cannstatt sieht man Menschen, die sich in die Hände beißen, die ihre Köpfe gegen die Wand schlagen, die sich die Haut blutig kratzen. „Sie versuchen dadurch, ihre Anspannung loszuwerden“, erklärt der Einrichtungsleiter Peter Francisci. Mehr als die Hälfte der 65 Bewohner weise gerade selbstverletzendes Verhalten auf. Der Grund: die Änderung der gewohnten Tagesstruktur. Damit kommen die vielen Menschen mit Autismus, die in den Einrichtungen der Stiftung wohnen, nicht zurecht.

 

Am Freitag, dem 13. März, ging das Leiden los. Seither gilt Besuchsverbot in den Einrichtungen der Behindertenhilfe. Die St. Damiano-Bewohner haben neben einer Behinderung eine psychische Störung und verstehen weder, warum ihre Angehörigen nicht mehr kommen, noch, warum sie nicht mehr in den Förder- und Betreuungsbereich gehen dürfen. Der ist wie die Behindertenwerkstätten geschlossen. Eine Methode, die ihnen hilft, sich zu beruhigen: Körperkontakt. Der sollte aus Gründen des Infektionsschutzes eigentlich vermieden werden. „Da muss man Prioritäten setzen“, so Francisci. Ohne Körperkontakt gehe es bei ihnen nicht – ein Dilemma, vor dem auch andere Einrichtungen stehen dürften. Würden sie Abstand halten, verstünden das die Menschen als Zurückweisung. Das könnte im schlimmsten Fall in eine Psychose münden, sagt Francisci. Eine weitere Methode zur Beruhigung: in der Eins-zu-Eins-Betreuung rauszugehen.

Schutzkleidung wirkt auf Bewohner noch irritierender

Für sie sei das „eine heftige Situation“, sagt der Einrichtungsleiter. Seit Mittwoch noch einmal heftiger. Da haben sie erfahren, dass der Corona-Test bei einem Mitarbeiter positiv war. Ob es der erste Fall in Stuttgart ist oder weitere Behindertenheime Fälle aufweisen, ist unklar. Das Gesundheitsamt könne hierzu keine Gesamtzahlen benennen, heißt es bei der Stadt – zu einzelnen Einrichtungen mache man keine Angaben. Kommt es zur Infektion, würden „in einem ersten Schritt Sofortmaßnahmen ergriffen, um die Weiterverbreitung der Erkrankung nach Möglichkeit zu verhindern“, so Pressesprecher Sven Matis. Falls notwendig werde persönliche Schutzausrüstung zur Verfügung gestellt, das Gesundheitsamt informiere zu Isolations- und Schutzmaßnahmen. Außerdem werde eine Liste mit engen Kontaktpersonen erstellt.

In den Einrichtungen der Stiftung Liebenau ist Schutzkleidung für rund eine Woche vorhanden. Allerdings wird den Mitarbeitern ganz anders bei der Vorstellung, die bereits jetzt verunsicherten Bewohner in Schutzkleidung aufsuchen zu müssen. Das wäre für diese noch irritierender, so Francisci. Müssten Bewohner in ein Krankenhaus eingeliefert werden, wären die Kliniken sicher „überfordert“. Auf andere Räumlichkeiten reagiere ihr Klientel extrem. Er fürchtet, dass die Bewohner medikamentös ruhig gestellt werden und im Notfall fixiert werden müssten. Natürlich könnten Eltern, die in Sorge sind, ihre Kinder jetzt mit zu sich nach Hause nehmen. Das Problem: „Die Menschen, die bei uns leben, sind alle schwierig“, diese Aufgabe sei sicher für die meisten nicht zu schultern.

Kranke Bewohner könnten erstmal im Haus gepflegt werden müssen

Auch die anderen Träger der Behindertenhilfe treibt das Infektionsrisiko um, schließlich sind viele Bewohner Risikopatienten. Die Nachricht, dass sich in der Behinderteneinrichtung Mariaberg in Gammertingen (Kreis Sigmaringen) 50 Menschen infiziert haben, hat schnell die Runde gemacht. Besonders schwierig ist es, Ausbrüche zu erkennen, wenn jemand keine Krankheitsgefühle äußern kann. Das gilt laut Peter Francisci für Menschen mit Autismus, die ein anderes Schmerzempfinden hätten. Aber auch bei Menschen mit anderen Behinderungen ist dies der Fall. „Unser Personenkreis kann nicht sagen, es kratzt mich im Hals“, sagt zum Beispiel Jürgen Rost von der Caritas, der den Wohnverbund Zuffenhausen-Rot leitet, zu dem das Haus St. Elisabeth gehört. Hier leben geistig und schwer mehrfach behinderte Menschen. Er fände es wichtig, „früh testen zu können“. Bei ihnen lebten alle in familienähnlichen Gemeinschaften zusammen, die Mitarbeiter gingen von Bewohner zu Bewohner. „Wenn das Virus einmal im Haus ist, ist es schwer“, sagt Rost. Er geht davon aus, dass sie kranke Bewohner lange in der Einrichtung pflegen müssten. „Wir haben ein Klientel, das im Krankenhaus nicht leicht zu versorgen ist“, sagt auch er. Pflegekräfte hätten sie im Haus, aber niemanden, der ein Beatmungsgerät bedienen könnte. Ein Thema, das sie deshalb „massiv“ beschäftige: Die Versorgung mit ausreichend Schutzkleidung, so Rost.

Auch die Stuttgarter Lebenshilfe sorgt sich um genügend Schutzkleidung. „Wir haben Ausrüstung, aber auf Dauer wird diese nicht ausreichen“, sagt die Sprecherin Eva Schackmann. Die Pflege von schwerer behinderten Menschen sei auf eineinhalb Meter Abstand nicht zu machen.

Für manche Bewohner ist die Situation wie Urlaub

Bisher sei die Stimmung in den eigenen Einrichtungen aber gut, berichtet Schackmann. Die Lebenshilfe betreut rund 450 Menschen mit Behinderung, davon rund 200 in Wohnangeboten. „Die Bewohner sind recht entspannt“, sagt sie. Noch nähmen diese es „wie Urlaub“ wahr, dass es nicht in die Werkstatt gehe. Positiv sei, dass Mitarbeiter aus den Werkstätten nun in den Wohngemeinschaften helfen. Das ist auch bei der Caritas so: „Ich habe aktuell mehr Personal als sonst zur Verfügung“, sagt Jürgen Rost. Er hofft, dass das möglichst lange so bleibt.