Immer mehr Einzelhändler kaufen in der Coronakrise Plexiglas zum Schutz ihrer Mitarbeiter. Davon profitieren auch Hersteller aus Stuttgart. Die Branche fürchtet jedoch, dass die Entwicklung nur von kurzer Dauer sein wird.

Stuttgart - Kreischend frisst sich das Sägeblatt durch die Plexiglasscheibe. Binnen Sekunden zerbröselt die CNC-Fräse das Material zu mikroskopisch kleinen Spänen, die im Sonnenlicht durch den Raum tanzen, in der Luft liegt der stechende Geruch von Kunststoffkleber – eigentlich eine ganz normale Szene an einem ganz normalen Arbeitstag der Firma Kienzle in Bad Cannstatt. Doch in Zeiten von Corona ist nichts normal, auch nicht in dem Betrieb an der Mercedesstraße.

 

17 Mitarbeiter schneiden dort die Kunststoffscheiben nach Kundenwunsch zu. Die Belegschaft biegt, schmilzt und verformt, was das Zeug hält – Abdeckhauben, Maschinenverkleidungen und bruchfeste Sichtfenster heißen normalerweise die Kassenschlager, die größten Abnehmer kommen aus der Maschinenbauindustrie. Doch seit dem Ausbruch des Coronavirus hat die Branche noch einen ganz anderen Absatzmarkt für sich entdeckt: Immer mehr Einzelhändler möchten mit einem Spuckschutz aus Plexiglas versorgt werden, um damit ihre Mitarbeiter vor einer Ansteckung mit dem Erreger zu bewahren.

Den Großhändlern droht ein Lieferengpass

Und so sind es längst nicht mehr nur Abdeckhauben, Maschinenverkleidungen und Sichtfenster, die den Werkhof der Firma Kienzle verlassen: Die Anfragen aus Arztpraxen, Apotheken und Supermärkten häufen sich, bis zu 25 Spuckschutze kann die Firma am Tag produzieren. 50 Prozent mache der Absatz solcher Konstruktionen aktuell aus, schätzt der Geschäftsführer Uwe Franke. Vor der Krise tauchten Spuckschutze in der Verkaufsstatistik überhaupt nicht auf.

Der Boom im Einzelhandel ermöglicht der Firma zumindest fürs Erste eine wirtschaftliche Verschnaufpause. Lange werde das Spuckschutz-Geschäft den Konjunkturabschwung aber nicht ausgleichen, fürchtet Uwe Franke: „Irgendwann ist auch der letzte Laden mit Plexiglas ausgerüstet.“

Derzeit plagt den Geschäftsführer noch eine andere Sorge: Die Hersteller waren auf den plötzlichen Ansturm nicht vorbereitet, den Großhändlern droht nun ein Lieferengpass. „Noch haben wir genug Plexiglas zur Verarbeitung da. Aber wenn ich jetzt nachbestelle, dann bekomme ich das neue Material frühestens im Mai“, so Franke. Spätestens dann dürfte es für viele in der Branche eng werden, die Krise macht auch vor den Plexiglasbetrieben nicht Halt.

Auch Schreinereien und Glasereien profitieren

Ähnliches berichtet ein Konkurrent der Firma Kienzle, der nur wenige Kilometer von der Mercedesstraße entfernt im Stuttgarter Osten seinen Sitz hat. Die Glasgroßhandlung Flüss sieht den eigenen Schwerpunkt nicht beim Plexiglas – und registriert doch deutliche Zunahmen. Der Absatz habe sich in den vergangenen acht Tagen beinahe verdoppelt, sagt Seniorchef Gerhard Flüss. Normalerweise macht der Verkauf der Kunststoffscheiben bei ihm nur fünf Prozent des Tagesgeschäfts aus. „Die Hersteller sind schon ziemlich ausverkauft, man bekommt nicht mehr jede Dicke problemlos geliefert“, berichtet auch er.

Neben dem Großhandel dürften insbesondere Schreinereien und Glasereien den Wunsch nach mehr Sonderanfertigungen für den Verkauf zu spüren bekommen. Bei der Kreishandwerkerschaft Stuttgart hat man zwar noch keine Rückmeldungen aus den Betrieben, die Mitglieder seien aber gut ausgelastet, so die Geschäftsstelle.

Aus der Praxis berichten kann die Firma Kiess mit Sitz in Möhringen, die in den vergangenen zwei Wochen nach eigenen Angaben an über 200 Orten Plexiglas installiert hat. Rund 50 Kunden seien auf den Stuttgarter Schreinerbetrieb zugekommen, sagt Geschäftsführer Wolfgang Rosskopf. Anders als Uwe Franke macht sich der Diplomingenieur sogar Hoffnungen auf einen länger anhaltenden Boom. „Diese Epidemie wird unsere Läden sicherlich verändern. In der Vergangenheit hat der Einzelhandel sehr auf Kundenkontakt gesetzt, da könnte der Virus eine Trendwende einleiten.“ Vorerst ist man aber auch in Möhringen erst einmal froh über den neuen Absatzmarkt.