Vor dem Bundestag wird wütend demonstriert. Die strikten Gegner einer Impfpflicht scheinen in der Minderheit zu sein, die Offenheit mindestens für eine Teilpflicht ist groß.

Berlin - Schon am Morgen des Tages, der eine Kehrtwende in der deutschen Coronapolitik einläuten könnte, lässt die Bundesregierung doch ihre Position zu einer Impfpflicht erkennen. Die sogenannte Orientierungsdebatte am Nachmittag sowie die für März geplante Abstimmung ohne Regierungsfraktionszwang gibt es zwar nur, weil sich nicht alle Ampelkoalitionäre von SPD, Grünen und FDP in der Frage einig sind und hinter einem gemeinsamen Gesetzentwurf versammeln können. Trotzdem spricht Staatssekretär Edgar Franke in der vorbereitenden Sitzung des Gesundheitsausschusses Klartext: Die Bundesregierung geht demnach davon aus, dass eine allgemeine Impfpflicht rechtssicher ausgestaltet werden kann und verhältnismäßig ist, um die Corona-Dauerschleife zu verlassen.

 

Rund um das Reichstagsgebäude versammeln sich einige hundert Demonstranten. Auch der Regen verhindert einen Massenauflauf von Impfgegnern. Ausdruck der gesellschaftlichen Aggression, die sich rund um Corona entwickelt hat, ist das Großaufgebot der Berliner Polizei, die nichts dem Zufall überlässt. Wasserwerfer stehen bereit, am Brandenburger Tor kesselt sie einen Demozug ein, aus dem der Ruf nach „Freiheit“ erschallt. Kreuze für die Mauertoten am Spreeufer bieten einigen Teilnehmern Gelegenheit, Opfer des DDR-Regimes mit denen der angeblichen Coronadiktatur zu vergleichen.

Vorbild für die Debattenkultur, nicht beim Genesenstatus

Bevor im Bundestag seriöse Argumente ausgetauscht werden, geht es noch um ein anderes der drei „G“. Weil Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) den Zeitraum, in dem jemand als von Corona genesen gilt, von sechs auf drei Monate verkürzt hat, ist im Bundestag eine peinliche Lage entstanden. Die internen Regeln sehen vor, dass die Volksvertreter den Status ein halbes Jahr innehaben – und damit länger als das Volk, das sie vertreten. An diesem Donnerstag will die Parlamentspräsidentin Bärbel Bas (SPD) das Thema im Ältestenrat besprechen und am liebsten aus der Welt schaffen.

Schließlich wollen die allermeisten Abgeordneten ein gutes Beispiel abgeben dafür, wie über ein kontroverses Thema diskutiert werden kann. Die „faire, respektvolle und konstruktive Debatte“, die Bas fordert, kommt mit wenigen Ausnahmen auch zustande. Die Reden der Unionsfraktion geißeln erneut, dass die Regierung keinen Gesetzentwurf vorlegt. Die AfD verbindet in Gestalt ihrer Fraktionschefin Alice Weidel die Ablehnung mit harten Vorwürfen – sie spricht wegen der Corona-Auflagen von staatlicher „Quälerei“ von Kindern und einem „skandalösen Vertrauensbruch“, da weite Teile der Bundespolitik eine Impfpflicht über lange Zeit ablehnten.

Der AfD-Abgeordnete Jörg Schneider berichtet davon, dass er sich nach einer Krebserkrankung für die Impfung entschieden habe – dies solle jedoch eine persönliche Sache bleiben. Der Linke Gregor Gysi wirbt eindringlich für die Impfung warnt aber davor, dass Ungeimpfte am Ende im Gefängnis landen könnten: „Das erträgt unsere Gesellschaft nicht.“ Stattdessen brauche es „Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung“.

Die Gegner setzen auf mildere Mittel

Wolfgang Kubicki, Vize der Liberalen wie des Parlaments, begründet seinen Nein-Antrag mit der aus seiner Sicht nicht gewahrten Verhältnismäßigkeit. Er wolle „nicht, dass die Mehrheit für die Minderheit festlegt, was als vernünftig anzusehen ist“. Auch sein Parteifreund, Bundesjustizminister Marco Buschmann, ist skeptisch und plädiert dafür, vor einer Impfpflicht alle milderen Mittel zu prüfen, was rechtlich zwingend sei. Eine Überlastung des Gesundheitswesens könne möglicherweise auch über neu zugelassene antivirale Medikamente verhindert werden.

Die Befürworter skizzieren, warum die aktuelle Impfquote von zwei Dritteln der Bevölkerung per Gesetz erhöht werden muss. „Die allgemeine Impfpflicht schützt unsere Freiheit“, sagt die designierte Grünen-Chefin Ricarda Lang mit Blick auf Geschäfte, Kultur und Eltern mit Schulkindern, die nach zwei Jahren Pandemie „müde“ und „mürbe“ seien. Sie räumt ein, dass sie vor einem Jahr noch anders argumentiert hätte und froh wäre, eine Impfpflicht wäre nicht nötig. Minister Lauterbach nennt die Impfpflicht den „einzigen Weg“, um im Herbst möglichen weiteren Virusvarianten trotzen zu können.

Die SPD-Abgeordnete Heike Baehrens präzisiert, wie sich die Kanzlerpartei die allgemeine Impfpflicht vorstellt – ab 18 Jahren, freie Wahl des Vakzins, zeitliche Begrenzung, Ausnahmen bei medizinischen oder psychologischen Bedenken, keine Pflicht zu weiteren Boosterimpfungen. Die FDP-Politikerin Katrin Helling-Plahr ist auch für eine allgemeine Pflicht. Würde sie nur für Über-50-Jährige gelten, könnte das bei jüngeren Altersgruppen „den gegenteiligen Effekt“ und weniger Impfungen auslösen.

Unterstützung für das Mischmodell

Für dieses Zwischenmodell treten ihr Fraktionskollege Andrew Ullmann, aber beispielsweise auch die sächsische Ärztin Paula Piechotta von den Grünen ein. Es beinhaltet ein verpflichtendes ärztliches Beratungsgespräch für alle Bevölkerungsgruppen – erst wenn auch das nicht zu einer deutlich höheren Quote führen würde, träte die nächste Stufe in Kraft, eine Impfpflicht für die besonders gefährdete ältere Generation. Tino Sorge, der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion, vermisst von der Regierung zwar die notwendigen Daten und Details, deutet aber an, ebenfalls einem „Kompromiss“ nahezustehen. Er gibt aber ebenso wie sein Fraktionskollege Erwin Rüddel zu bedenken, dass Omikron „zwar eine dominante, aber mildere Variante“ des Coronavirus darstellt, weshalb eine „absolute Impfpflicht“ für ihn nicht in Frage kommt.

Nach dieser Debatte will seine Fraktion einen eigenen Gesetzentwurf vorlegen. Dies haben auch andere fraktionsübergreifende Gruppen im Parlament angekündigt.