In der Corona-Krise geht ein Ruck durch die Gesellschaft. Viele bieten sich alten Leuten als Einkaufshelfer an. Doch nur wenige Senioren melden Bedarf an. Annäherung an eine mögliche Erklärung.

Filder - In der Corona-Krise wollen viele ihre Nachbarn unterstützen. Um vor allem Senioren den Weg in den Supermarkt abzunehmen, haben Kirchen, Vereine und Privatleute in Windeseile unzählige Hilfsprojekte gegründet. Vielerorts melden sich jedoch deutlich mehr Helfer als Bedürftige. Die Nachbarschaftshilfe des Degerlocher Frauenkreises (Kontakt: 07 11/76 45 02) hat bislang nur einen neuen Klienten. Beim Bürgerverein Schönberg (01 52-34 79 02 11) klingelt zwar oft das Telefon – am Hörer wurde bisher aber ausschließlich Lob ausgesprochen.

 

An der Konkurrenz vor Ort wird es nicht liegen

Ähnlich sieht es bei der evangelischen Kirchengemeinde Rohr-Dürrlewang (0 15 23-1 70 20 95) aus. Sie hat in zwei Wochen etwa 14 Helfer um sich geschart, aber nur zwei Interessenten, die Unterstützung brauchen. „Die Nachfrage ist sehr mager“, sagt der Diakon Elmar Bruker. An der Konkurrenz vor Ort wird es nicht liegen. Denn auch im nahen Awo-Seniorenzentrum (07 11/74 98 30) sagt Leiter Jonas Weitgang: „Der große Ansturm kam bisher nicht.“

Ingrid Schulte wundert das nicht. Die 78-Jährige ist beim Stadtseniorenrat die Sprecherin für die Fildervororte, und sie sagt über ihre Generation: „Wir sind darauf getrimmt, eigenständig zu sein, und das ist auch unser Wunsch.“

Für viele Senioren sei der Einkauf der Tageshöhepunkt, „das ist ein Ausbrechen aus der häuslichen Quarantäne“. Dieses „letzte Stück Freiheit“ wollten sich viele nicht nehmen lassen. Zumal: Etliche Senioren täten sich schwer damit, nach Hilfe zu fragen. Ingrid Schulte bemüht eine Bibelstelle: „Geben ist seliger denn nehmen.“ Und Beistand von Fremden zu erbitten und diese in die Wohnung zu lassen, das komme in der Regel schon gar nicht infrage.

Das kann Türen öffnen

Persönliche Kontakte und bekannte Gesichter können indes Türen öffnen. In Filderstadt haben das Team des Suse-Mobils, das seit Jahren als Fahrdienst für Betagte fungiert, und der Verein Aktiv für Senioren, das DRK, die Stadt, die Kirchen und weitere Akteure einen Einkaufsdienst (07 11/7 00 33 03) gegründet. „Unser Ziel war, dass nicht jeder für sich agiert, sondern eine konzertierte Aktion“, sagt Karl Praxl. Jeder Akteur habe potenzielle Klienten gezielt angesprochen, zudem wurde der Dienst im Amtsblatt beworben. Ergebnis: Vergangene Woche wurden 25 Bestellungen ausgeliefert.

In Stuttgart werden Initiativen über corona-engagiert.stuttgart.de gebündelt. Allein 13 von der Filderebene sind gelistet. Offerten, die so aber nicht jeden erreichen. Ingrid Schulte spricht von einer „fehlenden Kenntnis über E-Materialien“ unter ihresgleichen. Auch beim Sonnenberg-Verein (07 11/85 37 05) sind Informationen über Hilfsangebote bislang nur per E-Mail-Newsletter verschickt worden. Resonanz: null. Daher erscheint das Ganze nun noch mal im Vereinsblättle und landet so in den Briefkästen der Sonnenberger. „Oldschool“ nennt der Vereinsvorsitzende Martin Schleiermacher diese Art der Veröffentlichung, aber es sei wohl die einzige Chance, Senioren als Zielgruppe tatsächlich zu erreichen.

Das Engagement soll nicht schlechtgeredet werden

Auch in Sillenbuch scheint das gute alte Papier der Schlüssel zum Erfolg gewesen zu sein. Dort hat das evangelische Jugendwerk einen Hilfeservice ins Leben gerufen (07 11/47 89 91). Anja Lobmüller, die Jugendreferentin, berichtet, dass den bislang um die 70 – überwiegend alte – Menschen aus Sillenbuch, Heumaden und Riedenberg in Anspruch nehmen. Dort hat man das Ganze niederschwellig organisiert. „Wir haben Flyer verteilt in den Briefkästen, das hat den größten Ansturm gebracht“, sagt sie. 60 Helfer stehen zur Verfügung, stellen sich den Bedürftigen vor und bleiben ihnen dann fest zugeteilt. „Das muss für beide Seiten passen“, sagt Anja Lobmüller.

Ingrid Schulte will das Engagement keinesfalls schlechtreden. „Das ist unwahrscheinlich schön“, sagt sie, vielerorts seien Senioren aber bereits gut versorgt. „Die, die wirklich Unterstützung brauchen, haben Hilfe von den Sozialstationen“, glaubt sie. Ein Eindruck, der von anderen Engagierten geteilt wird. „Meistens funktioniert das Familiensystem gut“, sagt Jonas Weitgang von der Awo in Dürrlewang, zudem seien aktuell mehr Angehörige als sonst daheim. Und auch in Schönberg seien die Menschen seit jeher gut vernetzt, sagt Frauke Zmyslony, „man kennt sich“.