Lockdown ohne Ende, neue Virusmutationen, Zeitungen voller Todesanzeigen - an Corona kommt jetzt niemand mehr vorbei. Mut macht ausgerechnet einer, von dem man es vielleicht am wenigsten erwartet hätte.

Berlin - Wenn im Fernsehen mal eine ältere Serie läuft und sich dort Menschen umarmen oder auch nur enger zusammenstehen, meldet sich der kleine Jore aus Berlin sofort lautstark zu Wort: „Die halten den Abstand nicht ein!“ Jore ist sechs Jahre alt. Das heißt, dass Corona fast schon ein Sechstel seines Lebens ausmacht. Das prägt.

 

Im Winter 2020/21 kommt niemand mehr an Corona vorbei. Es ist jetzt fast schon Normalität, dass die Straßen leer gefegt sind und die Menschen hinter Masken unerkennbar bleiben. Die Corona-Todesfälle erreichen Höchststände, manche Zeitungen haben fünf oder sechs Seiten Todesanzeigen. Apokalyptisch wirken die Bilder von übereinander gestapelten Holzsärgen im Corona-Hotspot Meißen in Sachsen. Dazu verstärken Virus-Mutationen die Angst vor einer Überlastung der Intensivstationen.

„Jetzt kommen die wirklich ganz schweren Monate“, warnt der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach: „Die nächsten zwei Monate werden die härtesten der Pandemie werden.“ Markus Gabriel, Philosophieprofessor aus Bonn und Autor des Bestsellers „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“, sieht die Menschen in diesem Winter in einer „Phase der Verzweiflung“.

Viele traurige Geschichten

Dieses Stadium habe schon der französische Schriftsteller Albert Camus in seinem Roman „Die Pest“ beschrieben: „Dort haben sich die Menschen am Ende in ihr Schicksal ergeben“, schildert Gabriel. „Sie haben nicht mehr die Hoffnung, dass es einen schnellen Weg aus der Katastrophe gibt. So eine Phase der Verzweiflung nehme ich zurzeit auch bei uns wahr: Lockdown ohne Ende, keine Spur von Zuversicht.“

Es gibt so viele traurige Geschichten zu erzählen. Die heute 77 Jahre alte Dina aus dem Münsterland zum Beispiel ist in ihrer Kindheit zusammen mit einem Pflegekind aufgewachsen: Die zehn Jahre ältere Elisabeth war für sie die große Schwester. Jetzt ist Elisabeth in einem Pflegeheim an Corona gestorben. Die erste Welle in dem Heim hat sie noch überlebt, die zweite nicht mehr. Besuche waren seit vielen Wochen nicht mehr möglich. Aus Angst vor Ansteckung ist Dina auch nicht zur Beerdigung gegangen. So endet die lebenslange Beziehung - sonst eigentlich undenkbar - ohne Abschied am Grab.

Der Corona-Winter ist eine einsame Zeit. Und er hat die schlimmsten Befürchtungen noch übertroffen. Als es im März losging mit Corona, überwogen Erschrecken und Erstaunen, die unwirkliche Situation hatte für viele aber auch den Reiz des Neuen. So berichtete der Comiczeichner Ralf König („Der bewegte Mann“), Corona habe seiner Kreativität einen Schub versetzt: „Soviel Spaß und Freude hatte ich seit vielen Jahren nicht mehr.“ Im Sommer konnte man die Pandemie fast vergessen. Deutschland fuhr wieder hoch, Deutschland machte wieder auf.

Entschleunigung will sich nicht einstellen

Dann fielen die Blätter, und Corona bekam sein Comeback. „Jetzt sind wir in einer wahnsinnig komplizierten zweiten Welle, die erheblich schlimmer ist als die erste, wahrscheinlich viermal schlimmer, wenn man sich die Todeszahlen anschaut“, sagt Philosophieprofessor Gabriel. Man kann jetzt vielleicht nachfühlen, warum sich die Menschen jahrhundertelang vor dem Winter gefürchtet haben: Er war dunkel, er war kalt, er bot wenig Nahrung. Und deshalb sind in der dunklen Jahreszeit jedes Mal viele Menschen gestorben.

Doch es sind nicht nur die hohen Todeszahlen, die deprimieren. Dazu kommt laut Gabriel, dass viele Menschen durch widersprüchliche Botschaften der Politiker frustriert sind. „Erst heißt es: „Wir machen Lockdown Light, damit wir an Weihnachten mit unseren Liebsten zusammen sein können.“ Dann kommt Weihnachten, und es wird gesagt: „Verlasst das Haus nicht, trefft keinen!“ Das haben die Menschen nicht vergessen. Es war ein gefährlicher Kommunikationsfehler.“

Millionen sind jetzt schon seit Wochen auf die eigenen vier Wände zurückgeworfen. Die Welt ist klein geworden, aber die Entschleunigung, die mancher Zukunftsforscher zu Beginn der Pandemie noch rosarot vorausgesagt hat, die will sich nicht einstellen. Eltern rotieren zwischen Homeoffice und Homeschooling. Kinder sehen ihre Spielkameraden nicht mehr. Teenies hängen abends auf der Straße ab, weil alles geschlossen hat. Bei den Erwachsenen beschränkt sich das Treffen mit der besten Freundin auf einen Freiluft-Plausch mit Decke, Glühwein und aufgeklapptem Sonnenschirm gegen den Regen.

Lichtblick Impfstoff

Gabriel kann verstehen, wenn manche jetzt dem Lockdown entfliehen und in den Schnee fahren. „Ich würde es für einen Mangel an demokratischem Gemeinsinn halten, wenn wir kein Verständnis dafür hätten, dass die Menschen nicht in einem Lockdown sein sollen. In meiner Wahrnehmung haben die meisten ein sehr hohes Verantwortungsbewusstsein gegenüber dieser Pandemie.“

Zum Glück gibt es in dieser Finsternis auch einen Lichtblick - den Impfstoff. Er hat das Potenzial, die „Phase der Verzweiflung“ zu beenden. Doch dass das wirklich so kommt, ist nach Gabriels Überzeugung alles andere als sicher: „Die sozialen Netzwerke können den Impfstoff diskreditieren. Wir haben doch gerade erst gehört, dass die Impfwilligkeit in den Pflegeberufen teilweise signifikant unter 60 Prozent liegt. Warum? Weil sich die Menschen ihre Informationen von Facebook holen und dort steht: „Der Impfstoff ist gefährlich.““

Faktencheck zur Corona-Impfung:

Die Impfskepsis hat nach Einschätzung des Psychiaters Borwin Bandelow viel damit zu tun, dass Menschen vor etwas Neuem und scheinbar Unbeherrschbarem besonders viel Angst haben. An Corona hätten sie sich mittlerweile gewöhnt, an die Impfung noch nicht. „Da sagt das Angstgehirn: „Da spritz ich mir was in den Körper und weiß nicht, was passiert.““ Rational sei das nicht, schließlich sei der Impfstoff gut untersucht und mittlerweile auch schon millionenfach angewandt. „Wenn man glaubt, dass Corona nicht schädlich ist, der Impfstoff aber schon, ist das eine bizarre Verzerrung der Wirklichkeit.“ Bandelow geht aber davon aus, dass die Angst mit der Zeit abnimmt, weil sich ein Gewöhnungseffekt einstellt.

Je länger der Winter dauert, desto größer dürfte auch der Leidensdruck werden - und der Hunger nach dem alten guten Leben. Es ist ausgerechnet der als „Spaßbremse“ und „Schwarzmaler“ geschmähte Karl Lauterbach, der in diesem Januar Mut macht: „Ich gehe von einem sehr befreiten, sehr guten Sommer aus“, versichert er der Deutschen Presse-Agentur. „Dann wird das Schlimmste hinter uns liegen. Wir werden einen viel besseren Sommer haben als viele jetzt denken.“