Die Regierung in Peking entlässt Lokalpolitiker, um sich selbst aus der Schusslinie zu nehmen. Der rasante Anstieg der Infizierten hängt vor allem mit einer neuen Zählweise zusammen.

Wuhan - Es war nur eine Frage der Zeit, bis die politische Säuberungswelle losgehen würde. Auch zeichnete sich ab, dass es als erstes den Bürgermeister von Wuhan treffen würde, gefolgt vom Chef der Provinz Hubei. Die dortigen Parteikader haben schließlich wochenlang versucht, den Coronavirus zu verheimlichen. Am Mittwoch tauschte Peking die führenden Köpfe auf Stadt- und Provinzebene aus. Das Kalkül: Peking möchte die Schuldfrage vor allem auf der Ebene der Lokalregierung belassen.

 

Doch schon bald könnte die Krise auch Peking in die Bredouille bringen. Schließlich befindet sich das Land noch immer im Stillstand: Zwar wurden einige Fabriken wiedereröffnet, um die Versorgung zu gewährleisten. Doch viele Schulen und Universitäten, der Dienstleistungssektor und viele mittelständische Betriebe sind nach wie vor geschlossen. Vor allem die Verdienstausfälle für die Millionen Landarbeiter dürften für Unmut sorgen.

Quarantäne zehrt an den Nerven der Menschen

Doch auch die anhaltende Quarantäne zehrt an den Nerven. Die drastischsten Einschränkungen hat die Stadt Shiyan in der Provinz Hubei ausgegeben: Dort dürfen die Bewohner bis auf einige Ausnahmen ihre Wohnungen nicht mehr verlassen. Solche Maßnahmen können auch als vorauseilender Gehorsam der Lokalregierung verstanden werden, die verordnete Virusbekämpfung von Peking mehr als ernst zu nehmen.

Dabei scheint die Lage in Hubei immer bedrohlicher. Nur wenige Stunden vor der Entlassungswelle vermeldeten die Gesundheitsbehörden eine Hiobsbotschaft: 14 840 Menschen sollen sich innerhalb der letzten 24 Stunden infiziert haben – fast zehnmal so viel wie am Vortag.

Rasanter Anstieg hängt mit neuer Zählweise zusammen

Panik auslösen sollte die neue Statistik jedoch nicht. Schließlich hängt der massive Anstieg vor allem mit einer geänderten Zählweise in der Provinz Hubei zusammen. Wissenschaftlich würden bei Epidemien zwischen drei Kategorien an Patienten unterschieden werden, sagt Benjamin Cowling, Epidemiologe von der Universität Hongkong: Verdachtsfälle, wahrscheinliche Fälle und klinisch bestätigte Fälle. Seit Donnerstag würden nun auch sämtliche wahrscheinliche Fälle zu der Gruppe der Infizierten hinzugezählt.

Denn immer mehr Bewohner Wuhans, die sich ganz offensichtlich angesteckt haben, zeigten negative Resultate bei den verwendeten Tests, was deren Glaubwürdigkeit in Frage stellte. „Noch besser wäre es, wenn die genauen Kriterien für die einzelnen Kategorien der chinesischen Regierung auch publiziert werden. Die Schlüsselfrage, die uns beschäftigt, ist, wie schwerwiegend das neue Coronavirus tatsächlich ist.“

Experten haben keine Ahnung, wie viele Menschen sich tatsächlich infiziert haben

Als Vergleichswert ziehen Experten das Sars-Virus zurate, dessen Übertragungsrate vergleichsweise gering war, jedoch starke Symptome ausgelöst hat: Praktisch jeder Infizierte musste während der Epidemie 2002 und 2003 in eine Klinik, die Sterblichkeit lag bei knapp zehn Prozent. Auf dem entgegengesetzten Ende der Skala rangiert die Grippe, die hochansteckend ist, doch meist nur milde Symptome verursacht. „Unserer Einschätzung nach liegt das Coronavirus etwa in der Mitte.“

Sein Kollege John Nicholls, der als Pathologe einst bei der Isolierung des SARS-Erregers geholfen hat, meint: „Wir sehen hier nur die Spitze des Eisbergs. Schlussendlich haben wir keinen blassen Schimmer über die tatsächliche Anzahl an Infizierten, weil eine Dunkelziffer nur leichte Symptome zeigt und nicht getestet wurde.“

Zahl der angesteckten Krankenhausmitarbeiter wird verheimlicht

Auch wenn die beiden Mediziner zufrieden sind mit der Informationspolitik der Behörden, bleiben doch viele Fragen unbeantwortet – etwa, warum sich so viele Krankenhausmitarbeiter angesteckt haben: Allein in Wuhan infizierten sich bis Mitte Januar über 500 Krankenpfleger und Ärzte, weitere 600 werden als Verdachtsfälle gelistet. Dies deutet darauf hin, dass der Erreger von Medizinern anfangs unterschätzt wurde.

Die Krankenhäuser wurden angewiesen, die Anzahl angesteckter Angestellten nicht zu veröffentlichen, vermutlich um die Moral der unter immensem Druck stehenden Mediziner nicht weiter zu schwächen. Bereits letzte Woche ist mit dem als „Whistleblower“ bekannten Li Wenliang ein 33-jähriger Arzt an dem Virus gestorben, was unter der chinesischen Bevölkerung nicht nur Trauer, sondern auch Wut gegen die Behörden ausgelöst hat. Li hatte als erster vor den Risiken eines neuen Sars-ähnlichen Virus gewarnt, wurde von den Behörden jedoch zum Schweigen verdammt.