Wie kommen wir aus der Corona-Krise wieder heraus. Der Medizinethiker Georg Marckmann, Professor an der Münchener Universität, will eine öffentliche Debatte über alternative Strategien.

Berlin - Der Kampf gegen den neuartigen Virus stellt Politiker und Ärzte vor heikle und zum Teil ganze neue ethische Fragen. Der Medizinethiker Georg Marckmann benennt einige der auftauchenden Probleme im Gespräch mit unserer Zeitung.

 

Herr Marckmann, kommt ein verantwortlicher Politiker in diesen Tagen in die Lage, die aktuellen Corona-Toten abwägen zu müssen gegen einen möglicherweise langfristigen volkswirtschaftlichen Schaden, der auch Elend produziert?

Wir müssen als Gesellschaft immer abschätzen, wie effektiv Maßnahmen sind, mit der wir einer Herausforderung begegnen. Dabei sind stets alternative Strategien abzuwägen. Und wir müssen uns fragen, welche direkten und indirekten Kosten wir mit den Strategien verursachen. Diese Abwägung ist im konkreten Fall schwierig: Wir haben beim Corona-Virus noch keine verlässlichen Daten über die Effektivität verschiedener Strategien zur Infektionsbekämpfung. Und wir haben leider auch keine etablierten Maßstäbe, welcher Aufwand gerechtfertigt ist für die Rettung einer bestimmten Zahl von Menschenleben. Aber implizit sind solche Abwägungen immer im Spiel. Nehmen Sie als Beispiel die Versorgung mit Rettungshubschraubern. Natürlich steht nicht in jedem kleinen Ort einer. Wäre dies der Fall, könnten einige Patienten mehr mit einem Herzinfarkt oder einer akuten Gehirnblutung gerettet werden. Warum machen wir das dennoch nicht? Letztlich, weil diese Lösung viel zu teuer wäre. Wir sind also durchaus bereit zu sagen: Hier ist eine weitere Risikoreduktion zu kostspielig oder zu unbequem. Diese Abwägungen werden aber in der Regel nicht ausdrücklich thematisiert.

Prinzipiell wäre aber aus Ihrer Sicht unter den gegebenen Umständen die Entscheidung, den aktuellen Lockdown zu beenden, ethisch vertretbar, weil die volkswirtschaftlichen Kosten zu hoch werden?

Zumindest sollten wir diese Frage öffentlich diskutieren. Das fällt und schwer, weil wir dafür keine Maßstäbe haben. Angesichts der hohen Folgekosten und erheblichen Einschränkungen der Freiheit sollten wir Alternativen prüfen. Es wäre ja auch eine Möglichkeit, nicht das gesamte gesellschaftliche Leben herunterzufahren, sondern diejenigen Menschen zu schützen, die besonders gefährdet sind: ältere Menschen und chronisch Kranke. Das erschiene mir durchaus vertretbar und effektiv. Vor allem wenn gleichzeitig dafür gesorgt wird, dass die Kliniken personell und von der Ausstattung her bestmöglich gerüstet sind. Ich weiß, man kann die Fälle nur eingeschränkt vergleichen, aber ich weise doch darauf hin: In eine aktiven Influenza-Saison versterben bei weiterlaufendem gesellschaftlichen Leben 20 000 bis 25 000 Menschen an Grippe. Der Unterschied ist, dass bei Covid-19 so viele Menschen schwer erkranken, dass möglicherweise nicht mehr alle die erforderliche intensivmedizinische Behandlung bekommen können. Da tut sich die Politik und die Gesellschaft nachvollziehbarer Weise schwer zuzuschauen, ohne etwas zu tun. Dennoch müssen wir jetzt darüber nachdenken, wie lange wir die aktuellen Maßnahmen fortführen.

Ein Politiker darf sich also durchaus die Frage stellen, ob der Preis den wir gerade gesellschaftlich zahlen, noch gerechtfertigt ist, ohne der Verantwortungslosigkeit geziehen zu werden.

Ja, genau. Diese Frage aufzuwerfen, ist sogar ethisch geboten.

Wenn wir einen Massenansturm auf Intensivbetten nicht vermeiden können, kommen Mediziner in die Situation, entscheiden zu müssen, wer Intensivversorgung erhält und wer nicht – eine Frage von Leben und Tod. Ist die höhere Überlebenswahrscheinlichkeit als einziges Kriterium ein hinreichender Maßstab?

In normalen Zeiten haben Ärzte immer das Ziel, das Beste für den konkreten Patienten zu tun. Wenn aber nicht mehr alle Patienten behandelt werden können, dann muss entschieden werden, wer zu behandeln ist: Da geht es dann um überindividuelle Fragen der Gerechtigkeit. Um sie zu beantworten finde ich eine Denkfigur von John Rawls hilfreich. Wir begeben uns hinter einen Schleier des Nichtwissens und überlegen – ohne zu wissen, wie alt wir sind, welche Position wir haben, welches Risiko wir tragen -, wie ein gerechter Umgang mit so einer Situation der Knappheit aussehen kann. Dann würden die meisten sagen: Wir wollen, dass die größtmögliche Zahl an Menschenleben gerettet wird, weil das auch die Überlebenswahrscheinlichkeit des Einzelnen maximiert. Deshalb glaube ich, dass es ethisch am ehesten gerechtfertigt ist, diese schwierigen Entscheidungen anhand des Kriteriums der Überlebenswahrscheinlichkeit zu treffen. Dies führt dazu, das letztlich weniger Menschen versterben.

Wobei das Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit ja nicht deckungsgleich ist mit dem Kriterium des Alters…

Ganz genau. Ich bin der Meinung, dass das Alter für sich genommen keine Rolle spielen sollte. Die Erfolgsaussicht der Behandlung hängt vor allem an drei Faktoren: der Schwere und Bedrohlichkeit der akuten Symptome, den Begleiterkrankungen und dem allgemeine Gesundheitszustand. Natürlich sind Begleiterkrankungen und allgemeine Gebrechlichkeit bei älteren Menschen stärker ausgeprägt. Im Ergebnis ist es also wahrscheinlich so, dass mehr ältere Menschen aufgrund fehlender Erfolgsaussichten nicht auf die Intensivstation aufgenommen werden. Aber eben nicht, weil sie älter sind.

Wäre es in Ordnung, wenn andere Kriterien in die Abwägung einfließen? Man könnte sich vorstellen, dass etwa ein hochrangiger politischer Verantwortungsträger ein Intensivbett braucht, der wichtig für die staatlichen Entscheidungsprozesse ist, aber bereits gebrechlich. Könnte der einen Vorrang verlangen?

Aus ethischer Sicht sollten solche Erwägungen nicht einfließen. Eher diskussionswürdig finde ich die Frage, ob wir erkranktes Gesundheitspersonal bevorzugt berücksichtigen sollten. Wenn das medizinische Personal nicht schnell wieder gesund wird, schränkt das die Möglichkeiten ein, kranke Menschen zu behandeln. Zudem setzt sich das Personal in seiner Arbeit täglich erheblichen Risiken aus. Da wäre es eigentlich fair, das erkrankte Gesundheitspersonal zu bevorzugen.

Im Katastrophenfall entsteht im Krankenhaus Ressourcenknappheit. Hätten Covid-Patienten dann Vorrang vor anderen Erkrankten, etwa Herzinfarkt-Patienten?

Nein, alle Patienten, die intensivmedizinischen Bedarf haben, müssen gleich behandelt werden. Es gibt keinen Vorrang für Covid-19-Patienten.