Zwei Generationen von Europapolitikern diskutieren: Ex-Wettbewerbskommissar Mario Monti und die Grünen-Abgeordnete Franziska Brantner. Wie sehen sie Europa in der Corona-Krise aufgestellt?

Berlin - Die Coronakrise ist eine Zerreißprobe für die Europäische Union. Die Grenzen sind geschlossen, jedes Land denkt vor allem an sich, der Süden wirft dem Norden mangelnde Solidarität vor. In welcher Verfassung befindet sich die Gemeinschaft und wie kann sie aus der Krise kommen? Per Videokonferenz sprachen wir darüber mit dem ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti und der deutschen Bundestagsabgeordneten Franziska Brantner.

 

Senatore Monti, wie erleben Sie die Corona-Ausgangssperre bei Ihnen daheim in Mailand?

Mario Monti: Meiner Frau und mir geht es gut. Aber natürlich macht mir die Situation hier in Italien, in Europa und in der Welt insgesamt große Sorgen. Wenn man den ganzen Tag im Haus bleiben muss, kann das anstrengend, aber auch sehr produktiv sein. Wir haben jetzt Zeit, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Zugleich fehlen uns allen viele Dinge, die das Leben schön und angenehm machen.

Die Euro-Finanzminister haben am Mittwoch bis in die Morgenstunden über eine gemeinsame Antwort auf die Coronakrise verhandelt, bislang ohne Ergebnis. Die Gespräche sollen am Donnerstag fortgesetzt werden. Gehören solche Marathon-Sitzungen zur europäischen Folklore oder sind sie diesen Zeiten fehl am Platz?

Franziska Brantner: Das ist jetzt nicht die Zeit für Spielchen. Wir befinden uns in einer existenziellen Krise. Entweder kommen wir da gemeinsam und solidarisch raus, oder wir fügen dem europäischen Projekt insgesamt und unserer eigenen Wirtschaft schweren Schaden zu. In der Finanzkrise vor zehn Jahren haben sich zu zaghafte, zu späte Reaktionen als sehr kostspielig erwiesen. Diesen Fehler sollten wir nicht wiederholen. Diese Krise ist außergewöhnlich und erfordert deshalb außergewöhnliche Antworten. Dazu zählen eindeutig auch einmalige gemeinsame Staatsanleihen, so genannte Coronabonds.

Monti: Ich kann mich dem nur anschließen. In der Euro- und Finanzkrise stand die Währungsunion häufiger vor dem Auseinanderbrechen. Wir haben es dann aber doch immer geschafft, uns auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen. Die Krise damals war viel schwerer zu meistern, als das heute der Fall ist.

Inwiefern?

Monti: Einige Staaten im Süden, allen voran Griechenland, standen ehedem wegen langjähriger Fehlentwicklungen unter immensem Druck. Auf die Staaten des Nordens traf das nicht zu. Es gab damals die Schuldigen und die Unschuldigen. Das ist heute anders. Vor zehn Jahren gab es das Argument, dass gemeinsame Staatsanleihen so etwas wie eine Einladung an die Südländer seien, wie bisher weiterzumachen. Damals mag das Argument einer gewissen Logik gefolgt sein. Heute ist das nicht mehr der Fall. Es glaubt doch hoffentlich niemand, dass sich Italiener oder Spanier in Zukunft freiwillig mit dem Virus infizieren werden, damit ihre Staaten leichter an Geld kommen. Solidarität kann man nicht erzwingen. Aber die Länder im Norden sollten sich schon die Frage stellen, ob es nicht auch in ihrem eigenen Interesse wäre, dass der Süden so gut wie möglich durch die Krise und danach ökonomisch wieder auf die Beine kommt.

Wie würden Sie den gegenwärtigen Zustand Europas beschreiben?

Brantner: Die ersten Reflexe waren sehr national geprägt. Das betraf das deutsche Exportverbot für medizinische Produkte, aber auch die fehlende Abstimmung in gesundheitspolitischen Fragen. Letzteres hat auch damit zu tun, dass sich die EU-Staaten seit Jahren dagegen wehren, der Union mehr Kompetenzen in der Gesundheitspolitik zu geben. Die EU Kommission musste jetzt erst einmal die notwendigen Kriseninstrumente erschaffen – zum Beispiel den gemeinsamen Einkauf von medizinischem Material oder einen Verbund von Wissenschaftlern, die länderübergreifende Empfehlungen aussprechen. Notwendig ist überdies eine gemeinsame europäische Produktion von wichtigen Gütern wie Schutzmaterial, Testverfahren und Medikamenten.

Monti: Nach einigen Anlaufschwierigkeiten hat es in Europa sehr klare Gesten der Empathie und der Solidarität gegeben, insbesondere auch in Richtung meines eigenen Landes. Das gilt für die EU-Kommission und ihre Präsidentin Ursula von der Leyen, aber auch für die Mitgliedstaaten. Hierzulande wird sehr geschätzt, dass Deutschland große Mengen Schutzausrüstung nach Italien geliefert hat und italienische Covid-19-Kranke in deutschen Kliniken behandelt werden. Die Niederländer hingegen haben sich mit vergleichbaren Gesten bis heute sehr zurückgehalten. In Italien ist dadurch bei vielen der falsche Eindruck entstanden, dass der Norden insgesamt wenig solidarisch sei. Hier kommen alte Klischees durch – so wie im Norden immer wieder unterstellt wird, dass der Süden freihändig das Geld anderer Leute ausgeben wolle.

Bis vor wenigen Monaten saß in der italienischen Regierung noch Matteo Salvini, der Chef der der rechtsextremen Lega. Können Sie nicht nachvollziehen, dass viele Menschen in Deutschland skeptisch sind, wenn es um finanzielle Solidarität mit Italien geht?

Brantner: Wir befinden uns in einem Teufelskreis, nicht nur mit Blick auf Italien. Je weniger wir bereit sind zu helfen, desto stärker werden radikale Kräfte. Und je stärker diese Kräfte werden, desto weniger sind andere bereit zu helfen. Zum Glück ist Salvinis Lega nicht mehr Teil der italienischen Regierung. Das sollte man in Deutschland und anderswo aber auch zur Kenntnis nehmen, sonst haben wir es morgen wieder mit Salvini und Co. zu tun.

Monti: Das sehe ich genauso. Deutschland kann es sich nicht leisten, Italien zu verlieren. Auch ökonomisch nicht. Nehmen sie die deutsche Autoindustrie: Die ist nicht nur auf Zulieferungen aus Italien angewiesen, sondern auch auf italienische Kunden. Deutschland braucht einen funktionierenden Binnenmarkt in Europa, dessen Bedeutung in Zukunft vermutlich eher noch zunehmen wird. Denn die beiden anderen großen Blöcke, die USA und China, zeigen deutliche Tendenzen der Abschottung.

In nahezu allen EU-Ländern ist das öffentliche Leben weitgehend zum Erliegen gekommen. Kann es einen gemeinsamen Exit aus dieser Situation geben?

Brantner: Ja, das ist zwingend notwendig. Was nicht geht ist, dass ein Land bei der Aufhebung der Corona-Einschränkungen dieses tut und ein anderes jenes, ohne jede Koordinierung und ohne Blick auf das große Ganze. Die EU-Kommission muss hier jetzt mit den Mitgliedstaaten eine Art Masterplan entwickeln, insbesondere auch mit Blick auf den Schengen-Raum und den freien Reiseverkehr. Gelingt das nicht, drohen schwere Störungen im Binnenmarkt. Das wäre verheerend, auch hinsichtlich der Notwendigkeit, Europas Wirtschaft nach der Krise wieder in Schwung zu bringen. Es scheint Konsens zu geben, dass wir ein großes Konjunkturprogramm brauchen werden. Aber dieses muss eben gemeinsam finanziert werden, durch einmalige gemeinsame Anleihen. Ansonsten können sich einzelne Länder dies entweder nicht leisten oder gehen in die Überschuldung und riskieren dadurch eine neue Euro-Krise. Beides ist nicht in unserem Interesse, sonst können wir auch bei uns die Wirtschaft nicht wieder ankurbeln.

Monti: Wenn wir über Wege aus der ökonomischen Krise reden, sollten wir auch über den mittelfristigen EU-Haushalt für die kommenden sieben Jahre sprechen. Kommissionspräsidentin von der Leyen hat Recht, wenn sie sagt, dass der Haushalt eine zentrale Rolle bei der Stimulierung der Wirtschaft in den kommenden Jahren spielen sollte. Vor der Coronakrise haben sich die Regierungen darüber zerstritten, ob man jetzt ein Prozent oder 1,1 Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung einzahlen sollte. Das erscheint jetzt doch alles etwas überholt. Ich schlage vor, dass man jetzt mutig nach vorn geht und kein Budget für die kommenden sieben, sondern für die kommenden fünf Jahre verabschiedet. Der Schwerpunkt sollte auf Investitionen in allen Ländern liegen. Das jedenfalls wäre ein wichtiger Beitrag zur Bewältigung der Krise.