Weil er farbenblind ist, hat Neil Harbisson einen Sensor am Kopf befestigt, der ihm Farben in Töne umwandelt. „Ich kann dir ein MP3 von deinem Gesicht schicken“, sagt er. Die britischen Behörden haben den Sensor auf dem Passbild anerkannt.

Stuttgart - In einem Gespräch mit Neil Harbisson fallen plötzlich Sätze wie: „Dein Äußeres kann gut aussehen, aber schlecht klingen.“ Oder: „Wir sind nicht schwarz und weiß. Wir sind alle unterschiedliche Arten von Orange.“ Harbisson sagt nicht nur ungewöhnliche Sachen, er sieht auch ungewöhnlich aus: Vor seiner Stirn hängt ein Sensor, der über ein Gestell aus dem Hinterkopf zu wachsen scheint. Das selbst gebaute Gerät nennt er Eyeborg. Für Harbisson ist es die einzige Möglichkeit, Farben wahrzunehmen.

 

Harbisson ist 30 Jahre alt und hat Achromatopsie – er ist farbenblind. Er kann nur Schwarz, Weiß und Grautöne erkennen. Das Eyeborg wandelt permanent Farben in Töne um und überträgt sie auf seinen Schädelknochen. „Mein Leben ist ein Film mit Hintergrundmusik, der seit zehn Jahren anhält“, sagt Harbisson.

Das Eyeborg wurde von Harbisson und mehreren Wissenschaftlern vor zehn Jahren entwickelt und seitdem mehrfach verbessert. Am Anfang wog es fünf Kilogramm, hatte Kopfhörer, später wurden es drei, dann zwei Kilogramm. Aktuell besteht das Herzstück des Eyeborgs aus einem Chip, der unter seine Frisur passt, inklusive USB-Anschluss. „Ich muss mich alle drei bis fünf Tage anstöpseln“, sagt Harbisson. Dann ist der Akku leer.

Blau klingt wie Cis, Gelb ist ein G

Der Sensor, ein Eyetracker, vor seiner Stirn nimmt die Farben in Harbissons Umgebung oder auch einer gezielten Blickrichtung auf. Über einen schwenkbaren Arm ist der Sensor mit dem Chip verbunden. Der Chip wurde operativ mit der hinteren Schädelwand verbunden. Er wandelt die Farbinformationen in Tonsignale um und überträgt sie direkt auf den Knochen. Auf diese Weise kann Harbisson Farben hören. Blau ist Cis, Gelb ist G – jeder Farbton hat einen Signalton. 360 Töne umfasst das Repertoire des Gerätes, die Sättigung des Farbtones bestimmt die Tonhöhe. Noch so ein Satz von Harbisson: „Ich kann dir ein MP3 von deinem Gesicht per Mail schicken.“

Im kommenden Jahr will sich Harbisson einer weiteren Operation unterziehen: Der Chip soll dann in seinen Knochen integriert werden, damit er die Töne besser hören kann. Und das übernächste Update soll die Energieversorgung verbessern: „Wir wollen die Körperenergie nutzen“, sagt er. Das Eyeborg benötige nur sehr wenig Strom. Über die Energieausbeute der Blutzirkulation soll der Chip zukünftig geladen werden. „Ich bin fest davon überzeugt, dass das bald möglich ist.“

Für seinen Zustand hat Harbisson einen Begriff erfunden: Sonochromatismus – Farbenhörigkeit. Jede andere Bezeichnung treffe nicht auf ihn zu, sagt er. Viele würden ihn als Synästhetiker bezeichnen. „Das ist aber ein Mix verschiedener Sinne, wie das Hervorrufen von Farben beim Musikhören.“ Er aber erweitere seine Sinne mittels Technik.

Harbisson bezeichnet sich außerdem als Cyborg. Er sieht sich aber nicht in einer Science-Fiction-Definition des Begriffs. „Ich bin ein Mensch“, sagt Harbisson. Er fühle sich mit dem Eyeborg näher am Tier als an Maschinen oder Robotern. Das von ihm wahrgenommene Farbspektrum ist breiter als das des menschlichen Auges: Harbisson kann auch in den Randbereichen von ultraviolettem und infrarotem Licht sehen. Oder besser gesagt: hören.

Im Kino denken sie, er nehme den Film auf

Seine Umwelt reagiert nicht immer entspannt auf ihn: Harbisson berichtet von Geschäftsinhabern, die dachten, er spioniere in ihren Auslagen. „Die Leute sind generell paranoid, sie denken, ich filme sie.“ In Kinos bekam er schon Probleme, weil das Personal vermutete, er wolle den Film aufnehmen. Kirchen sind ebenfalls ein schwieriger Ort. „Ich werde dort oft als respektlos empfunden.“ Es gab auch gewaltsame Attacken: Ein Dieb in einem Bus in London dachte, er nehme ihn auf frischer Tat auf, und schlug Harbisson nieder. An der Grenze zu Honduras wollte man ihm das Eyeborg abnehmen, weil man dachte, es sei ein neuartiges Handy. Wieder andere halten das Eyeborg für „Google Glass“. Harbisson findet das Konzept der Datenbrille des Internetkonzerns interessant. Wahrscheinlich würde er das Gerät sogar benutzen, sagt Harbisson. Sein Eyeborg basiere aber auf einem anderen Konzept. „Ich sammele keine Daten, ich will meine Sinne erweitern.“

Harbisson bezeichnet sich inzwischen als ersten von einer Regierung anerkannten Cyborg. Nach einem Behördenstreit in Großbritannien wurde sein Eyeborg als Teil des Passfotos anerkannt. Seitdem habe er weniger Probleme an Flughäfen, sagt er.

Bei einem Spaziergang mit Harbisson kann man die erhöhte Aufmerksamkeit gut beobachten. Das Eyeborg ist nicht groß genug, um einen Massenauflauf zu verursachen. Ein Blickfang bei Passanten ist es trotzdem. Er sieht die Blicke der Leute gar nicht mehr. „Ich wundere mich manchmal, warum mich die Menschen anstarren“, sagte er. „Aber dann fällt mir wieder ein: Ich habe ja diese Antenne am Kopf.“ Harbisson lacht. Danach ist ihm nicht immer zumute. Manche Menschen halten ihn für einen Spaßmacher. „Schau mal, ein Teletubbie“, rufen sie ihm nach. Andere fragen: „Bist du vom Mars?“.

Er kämpft für die Anerkennung von Cyborgs

Der Sohn katalanischer und nordirischer Eltern hat in seiner Heimat in Barcelona eine Stiftung gegründet, die „Cyborg Foundation“. Die Stiftung will die Rechte für Cyborgs vorantreiben und Menschen dabei unterstützen, technische Erweiterungen für den Körper zu entwickeln und damit ihre Sinne zu verbessern oder nicht vorhandene Sinne zu ergänzen. Bisher wurde etwa ein Armband entwickelt, das Erdbeben anzeigen soll oder Ohrringe, die vibrieren – als Warnung bei Bewegungen, die außerhalb des Sichtfeldes liegen.

Sein Geld verdient Harbisson als bildender Künstler und Musiker. Er bringt Töne – Lieder oder über das Eyeborg betrachtete Gesichter – auf die Leinwand. Quasi als Umkehrung des Eyeborg-Prinzips. „Der Song ‚Baby’ von Justin Bieber zum Beispiel ist hauptsächlich rosa“, sagt er. Und er gibt kleine Konzerte: Er benutzt dabei nicht sein ursprüngliches Instrument Klavier, sondern er spielt Farben.

Als er das Eyeborg das erste Mal anlegte, sei das ein Schock für seinen Körper gewesen, sagt Harbisson. Es habe Monate gedauert, bis er die Flut an neuen Informationen verarbeiten konnte. Inzwischen könne er aber nicht mehr auseinanderhalten, wer die Töne erzeuge: das Gerät oder sein Gehirn. „Ich träume sogar Farben als Töne.“ Das Eyeborg ist für Harbisson längst ein Teil seines Körpers – fest verbunden mit seinem Kopf. Er duscht damit, er legt sich damit ins Bett. „Sein Gehör kann man im Bad und im Schlaf auch nicht abschalten“, sagt er. Nur tauchen kann er nicht mit der Technik am Kopf.

Um einen Eindruck zu bekommen, wie Neil Harbisson Farben wahrnimmt, gibt es die kostenlose Eyeborg-App für Geräte mit Android unter: www.eyeborgapp.com