Unsere Kolumnistin empfindet ihren Alltag oft als Geschenk: Was ist er anders als ein unverdientes Privileg, ein glücklicher Zufall, in einem der reichsten Länder der Welt in Frieden, Sicherheit und Wohlstand leben zu dürfen?

In seiner Erzählung „Die Küchenuhr“ beschreibt der 1947 mit nur 26 Jahren verstorbene Hamburger Dichter Wolfgang Borchert ein Paradies. Allerdings wächst dort kein Baum mit verbotenen Früchten, auch keine anderen Pflanzen. Das Paradies aus Borcherts kurzem Text ist eine einfache gekachelte Wohnküche. Der Held der Geschichte, „erst zwanzig“, aber „mit einem alten Gesicht“, schildert seinen Arbeitsalltag, der in dieser Küche mit einem Abendbrot endete, das seine Mutter ihm aufwärmte, täglich gegen halb drei Uhr morgens, also am Ende einer Nachtschicht. Die Mutter empfängt den Sohn immer mit demselben Satz: „So spät wieder“, dann setzt sie sich zum ihm an den Tisch, in Strickjacke und Schal, reibt ihre frierenden Füße aneinander und leistet ihm beim Essen Gesellschaft, während über ihnen an der Wand die Uhr tickt. Ein Arbeiteridyll vergangener Zeiten – Borcherts Erzählung erschien 1947 – die aus Sparsamkeit ungeheizte Küche, die ältere Frau, die ihren erwachsenen Sohn umsorgt, das einvernehmliche Schweigen. Karger Alltag, unspektakulär, nicht der Rede wert. Er erhält seine Vergoldung, seine Erhöhung erst im Nachhinein, denn es gibt ihn nicht mehr – nicht die Küche oder das Haus, in dem sie sich befand, nicht die Mutter oder den Vater des Mannes. Eine Bombe hat das Haus getroffen, es liegt in Schutt und Asche, die Eltern sind tot. Aus den Trümmern birgt der Sohn die Küchenuhr, sie hat die Form eines Tellers, weiß, mit blau gemalten Zahlen auf dem Zifferblatt. Die Zeiger stehen auf halb drei, der Stunde seiner Heimkehr. Seine Erinnerungen an diese unwiederbringlich verlorene Vergangenheit, an den Frieden, in dem ein solcher Alltag möglich war, teilt der junge Mann mit einer Handvoll Fremder, die auf einer Bank in der Sonne sitzen, und urteilt abschließend: „Jetzt, jetzt, weiß ich, dass es das Paradies war. Das richtige Paradies.“