In Stuttgart und im Land startet die Imaginale 2018. Das internationale Figurentheaterfestival mit Gastspielen aus elf Nationen ist zu einem der wichtigsten Treffen der Branche in Europa geworden.

Stuttgart - Was ist Surrealismus? Noch bevor es diese Kunstrichtung überhaupt gab, hatte der französische Dichter Lautréamont in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihr Wesen bereits definiert. Er schrieb vom „zufälligen Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ – eine absurde Metapher, die fünfzig Jahre später zum Slogan der Surrealisten wurde und dem Betrachter auch heute in den Sinn kommt, wenn er das Logo der Imaginale 18, des in mehreren Städten stattfindenden Figurentheaterfestivals, vor Augen hat. Geziert wird es von einer Pfauenfeder und einem Menschengebiss, zwei einander fremden Dingen, die sich allerdings nicht auf einem Seziertisch begegnen, sondern im Schriftzug des Festivaltitels. Bunt schillernd das eine, von fleischfarbener Aseptik das andere, aber gemeinsam in der Lage, die Fantasie surreal aufblühen zu lassen: Das Motto der zum sechsten Mal stattfindenden Imaginale heißt „Zwischenwelten“.

 

Ensembles aus elf Ländern zu Gast

Sechs Städte sind mit ihren Theatern am internationalen Treffen der Puppen- und Figurenspieler beteiligt. Zum Festivalverbund gehören Heilbronn, Eppingen, Schorndorf, Ludwigsburg und – last not least – Mannheim und Stuttgart. Von den beiden letztgenannten Städten ging vor zehn Jahren auch der Impuls zur Gründung der landesweiten Imaginale aus, die sich zu einem der wichtigsten Festivals der Branche entwickelt hat – „nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa“, wie Katja Spiess erklärt.

Die Chefin des Stuttgarter Zentrums für Figurentheater, kurz Fitz, ist die Hauptkuratorin der vom 18. bis 28. Januar stattfindenden Festspiele, zu deren Erbgut neben der ästhetischen Bandbreite zwischen Pfauenfeder und Menschengebiss auch das Effizienzprinzip gehört. 28 Ensembles und Solisten aus elf Nationen reisen nach Baden-Württemberg, und wenn sie schon im Land sind, sollen sie es auch flächendeckend bespielen. „Für jede Partnerstadt“, so Spiess, „hat das Kuratorenteam ein passgenaues Angebot zusammengestellt“ – und dazu gehört auch, dass die Mehrzahl der neunzig Aufführungen in den Großstädten Mannheim und Stuttgart gezeigt wird.

Zum Stuttgarter Auftakt führt die französische Truppe La main d’oeuvres in ein poetisches Zwischenreich: „Les Insomnies“ heißt die Produktion, die am Freitag, 19. Januar, auf der Bühne des Jes zu sehen ist und klassisches Figurentheater mit Bildender Kunst und experimenteller Musik verknüpft. Katerini Antonakaki, der weibliche Kopf der französischen „Arbeitskräfte“, zaubere mit ihren Spielern und Akrobaten einen Kosmos der Bilder ins Theater, sagt Spiess: „In diesem flirrenden Dazwischen der dauernden Schlaflosigkeit zeigt sich der Mensch in all seinen Möglichkeiten, vom Schönsten bis zum Schrecklichsten“ – und etwas ganz anderes, den Charakter des Festivals betreffend, zeige sich in dieser „beglückenden Inszenierung“ aber auch noch: „Man muss sich nicht für Puppen interessieren, um das Festival für Puppen- und Figurentheater spannend zu finden. Diese Art von Theater ist längst zu einer multidisziplinären Kunst mit erwachsenen Themen geworden“ – wobei, so fügen wir hinzu, bei der Imaginale natürlich auch Kinder nicht zu kurz kommen. Das Festival bietet Stücke für ein Publikum ab zwei Jahren an, lautmalerisch, ohne Worte.

In Stuttgart 99 Prozent Auslastung

Um aber bei den Erwachsenen und einer weiteren Empfehlung der Chefkuratorin zu bleiben: Im reichhaltigen Imaginale-Programm steht auch „F. Zawrel“ von Nikolaus Habjan, jenem Künstler aus Österreich, der das Puppengenre mit dokumentarischen Stoffen versorgt – und revolutioniert. Sein realer Titelheld Friedrich Zawrel entging als „erbbiologisch und sozial minderwertiges Kind“ nur knapp den Euthanasiemorden der Nazis. Im Jahr 2000 konnte er seinen Fall vor Gericht bringen, mit all den Dokumenten und Akten, auf denen nun das emotional tiefe und politisch brisante Stück über die NS-Verbrechen basiert, für das Habjan mit dem österreichischen Nestroy-Preis ausgezeichnet wurde. Die außergewöhnliche Puppendoku ist allerdings nicht in Stuttgart, sondern – am 19. und 20. Januar – nur bei den Festivalpartnern in Heilbronn und Mannheim zu sehen.

Hauptfinanzier des zehntägigen Kunstmarathons, dessen Gesamtetat sich auf rund 300 000 Euro beläuft, ist das Land Baden-Württemberg. Es schießt 100 000 Euro bei, der Rest kommt von den sechs Partnerstädten, einer Reihe von Sponsoren und – nicht zu vergessen – den Theatern selbst. „Beim letzten Festival hatten wir eine Auslastungsquote von insgesamt 92 Prozent“, sagt Katja Spiess, „in Stuttgart lag sie sogar bei 99 Prozent. Wir waren faktisch ausverkauft.“ Und weil sich ähnlich Erfreuliches auch für die diesjährige Ausgabe abzeichnet, wird aller Voraussicht nach wieder mehr als ein Viertel des Etats mit den Eintrittsgeldern an der Abendkasse erwirtschaftet – ein stolzes Ergebnis, das sich mindestens so sehen lassen kann wie das mit Überraschungen vollgepackte Programm der Imaginale 2018.