Seit fünfhundert Jahren geht das Gespenst eines württembergischen Trinkpagen im Herrenberger Dekanat um. Und das, obwohl es doch überhaupt keine Gespenster gibt, wie jedermann weiß.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Herrenberg - Aus der nächtlichen Herrenberger Stiftskirche leuchtete gespenstisches Licht über die Stadt. Ganz deutlich konnte man die durchdringende Stimme des Prälaten Christoph Oetinger hören, die aus dem Kirchenschiff in die Nacht scholl. „Der Prälat predigt den Geistern“, sagten die wenigen Menschen, die es wagten, bei Nacht den Schlossbuckel hochzusteigen, und hätten sich bekreuzigt. Wenn dies nicht stockprotestantisches Württemberg gewesen wäre und nicht das Zeitalter der Aufklärung.

 

Aber mit den Geistern ist es so ein bisschen wie mit den Hufeisen: Selbst wenn man nicht dran glaubt, könnte es doch sein, dass es sie gibt. Im Zimmer des Dekanatsamtes neben der Stiftskirche weist eine Inschrift auf das Jahr 1577. Im Schatten der Renaissance-Paneele sitzt ein maskierter Mann. Während er von dem Gespenst spricht, geistert von irgendwo her ein lautes Frauengelächter über den Gang. Der Mann ist der Dekan Eberhard Feucht mit seiner Corona-Maske. Das Lachen kommt vorne vom Sekretariat, wo zwei Frauen irgendeine Gaudi miteinander haben.

Der untote Weingeist

Dieses Zimmer ist das einzige im Dekanatsgebäude, das nie renoviert wurde, aus Respekt vor dem Gespenst, das dort umgeht. Feuchts Vorgänger im Amt Klaus Homann hat aus dieser ehemaligen Rumpelkammer so etwas wie einen Gesellschaftsraum gemacht. „Als ich mein Amt bezog, wurde mir gleich gesagt, hier sei ein Geisterzimmer“. Er inspizierte den dunklen Raum, den man nicht genutzt hat, weil es darin spuken sollte. „Es kratzte und scheuerte dort und die Dielen knarzten“, erinnert sich Homann. Er fand heraus, der Raum sei deswegen Jahrhunderte nicht benutzt worden, weil man auch andere Töne gehört habe, wie wenn man Flaschen entkorke: Ein Ploppen und dann ein saugendes Geräusch.

Homann forschte in den Akten des Dekanats und fand heraus, dass dieser Raum 1577 für einen Trinkpagen des Herzogs eingerichtet war, was erklären würde, warum das Gespenst ausgerechnet Korken knallen ließ und nicht etwa mit Ketten rasselte wie seine Artgenossen. Aber warum war dem unglücklichen Pagen die Aufnahme ins Himmelreich verwehrt worden? Hatte er sich versündigt, den Wein gepanscht oder gar anders herum: Hatte er dem Herzog vielleicht einmal zu viel reinen Wein eingeschenkt, worauf er für immer verflucht wurde?

Teufelswerk in Alchimistenküche

Und vor allem, wie konnte sich diese Sage von dem untoten Weingeist und damit vom vermutlich einzigen noch aktiven Gespenst im Landkreis Böblingen bis heute halten? Das muss wohl an besagtem Prälaten Oetinger gelegen haben, der sieben Jahre lang von 1759 bis 1766 in Herrenberg seinen Dienst tat. Er war nicht gerade ein typischer Vertreter der Aufklärung. Wenn er nicht predigte oder sich um seine Schäflein kümmerte, stand er in seinem Alchimisten-Zimmer hinter den Retorten und versuchte, den Geheimnissen der Natur auf die Spur zu kommen.

Da mag es zuweilen auch zu seltsamen Gerüchen und Feuerfunken gekommen sein, die man leicht als Teufelswerk hätte erklären können. Aus der Alchimie heraus beschäftigte er sich mit der Kabbala, und versuchte, die Weisheiten des jüdischen Mysterienbuches mit der damals modernen Naturwissenschaft in Einklang zu bringen. Eine der skurrilsten Schriften jener Zeit ist ein heute sehr seltenes Traktat von ihm: Darin versucht er nachzuweisen, dass Newtons Gravitationsgesetz und Keplers Planetengesetze bereits in der Kabbala beschrieben seien, als die ersten der sieben Quellgeister Gottes.

Rätselhafte Dinge entstehen

Weil es einen umschlossenen Gang vom Dekanat zur Stiftskirche gab, konnte Oetinger von den Bürgern unbemerkt in die Stiftskirche gelangen. Dort habe er sich nächtens auf seine Predigt vorbereitet und sie laut vor sich hin gesprochen. In Zeiten ohne Mikrofon und Lautsprecher mussten die Prediger ihre Stimmtechnik stets üben und ihre rhetorischen und theatralischen Effekten einstudieren. Wohl deswegen glaubten die Herrenberger, er habe den Geistern gepredigt. Diese Geister Oetingers nun, sagt Homann, hätten sich nun mit der Erinnerung an den Trinkpagen zur Gespenstergeschichte verwoben. Klaus Homann glaubt natürlich nicht an Geister, aber seltsam sei es schon gewesen, als einmal eine Toilette von innen verschlossen gewesen sei, obwohl sich niemand drin befand.

Auch der Dekan glaubt nicht an Geister. „Ich steh’ in meines Herren Hand“, ist im wahrsten Sinne sein unerschütterliches Credo, in dem es für unerlöste Seelen keinen Platz hat. Er hat auch niemals so etwas wie ein Saugen oder Ploppen gehört. „Es war mehr so ein Scharren“, erinnert er sich, und weist auf die Fensterseite des Spukzimmers. Viele Jahre blieb dieses Scharren unverständlich, bis einmal ein kleines Tierlein über den Flur des Dekanats lief. Es waren Siebenschläfer gewesen, die unter dem frommen Dach einen Heidenspektakel veranstaltet hatten. Die ungebetenen Geäste wurden ausquartiert. Seitdem ist Ruhe im Karton.