Ein ganz besonderes Stuttgarter Nachkriegsgebäude wird zurzeit in Oberschwaben restauriert. Bald soll es im Hohenloher Freilandmuseum Wackershofen einen Platz für die Ewigkeit bekommen.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Stuttgart - Ende 1949 kauft sich Hermann Ertle, Direktor einer Sport- und Jugendleiterschule, ein Haus aus Stahl und lässt es an einem Hanggrundstück im Stuttgarter Stadtbezirk Sillenbuch aufbauen. Das Eigenheim gilt unter Besserverdienenden als der letzte Schrei. Es besteht aus Fertigbauteilen, die Innenausstattung mit Zentralheizung, Einbauküche und Wannenbad ist im Festpreis von gut 30 000 Mark inklusive. Die architektonische Gestaltung ähnelt konventionellen Steingebäuden – Sprossenfenster mit Klappläden, Satteldach, Gauben im Dachgeschoss –, doch die Außenwände erinnern an einen Schiffscontainer. 240 dieser Stahlhäuser stellt die Firma MAN her, die eigentlich im Lastwagensektor beheimatet ist. Nach fünf Jahren wird die Produktion eingestellt. Es haben sich nur wenige wagemutige Bauherren wie Ertle gefunden.

 

Heute sind MAN-Stahlhäuser Raritäten, gerade einmal 39 stehen noch. Offiziell gelten sie als erhaltenswürdig, allerdings stößt der Denkmalschutz an Grenzen. Bis 2011 wurde die 150 Quadratmeter große Immobilie in Sillenbuch bewohnt und schluckte aufgrund einer lachhaften Wärmedämmung jährlich 8000 Liter Heizöl. Ein Bauträger kaufte den Energiefresser und bekam eine Abrissgenehmigung. Eine zeitgemäße Sanierung würde ohnehin den Charakter des Gebäudes zerstören, lautete das behördliche Fazit, also könne man es gleich durch einen Neubau aus Beton ersetzen. Das Sillenbucher Stahlhaus wäre wohl auf dem Schrottplatz gelandet, wenn Michael Happe diesen Frevel nicht im letzten Moment verhindert hätte: Der Leiter des Hohenloher Freilandmuseums Wackershofen erklärte sich bereit, das heimatlose Gebäude zu adoptieren.

Im Sommer 2016 beginnt die Firma Jako Baudenkmalpflege damit, das Gebäude in Sillenbuch verschwinden zu lassen, ein gutes Jahr später soll es in Wackershofen wieder auftauchen. Dieses Kunststück erledigen Fachleute wie Jürgen Christ. Der 29-Jährige ist Restaurator und Zimmermann, das MAN-Stahlhaus ist das fünfte Objekt, das Christ mit seinem Team abbaut, in den Originalzustand versetzt und wieder aufbaut. Bisher hatte er mit uralten Gemäuern zu tun, nun soll er eine Konstruktion aus dem 20. Jahrhundert zerlegen. „Ich weiß genau, wie ein Fachwerkhaus aufgebaut ist“, sagt er. „Aber das hier ist etwas anderes: Alles ist verschraubt und mit Farbe zugeschmiert. Da muss ich mich erst neu orientieren.“

Gottlob hatte die Firma MAN noch die Originalpläne in ihrem Fundus. Sie liegen nun im ehemaligen Schlafzimmer, auf einer Bierbank vor der Blümchenmustertapete. Jedes der rund 1500 Einzelteile, in die das Gebäude zerlegt wird, fotografiert Christ, versieht es mit einer Nummer und zeichnet es in die Pläne ein, damit das Riesenpuzzle später auch gewiss wieder so zusammengesetzt wird, wie es war. Allein zwei Wochen dauert es, das hölzerne Interieur zu demontieren, zu katalogisieren und zu verpacken. Dann geht es ans Blech, mit all den festsitzenden Schrauben, denen der Kopf abgeschlagen werden muss. „Man braucht Geduld und Spucke“, sagt Christ.

Das Gebäude kommt in ein Gebäude

Anfang September stehen am Hang nur noch die Gebäudehülle und auf der Straße ein Tieflader, der die größten Einzelteile abtransportieren soll. Minutenlang schwebt ein Giebel, schwer wie ein Mittelklassewagen, über Sillenbuch, bevor ihn Christ mit dem ferngesteuerten Kran hochkant auf den Sattelauflieger dirigiert. Dann geht es auf die Autobahn Richtung Oberschwaben.

Acht Monate später. In dem Dorf Illerbachen, fünf Kilometer von der Firmenzentrale in Rot an der Rot entfernt, hat Jako eine Halle gemietet, in die problemlos ein Airbus passen würde. Unter der Decke hängen riesige Kräne, wie man sie von Containerhäfen und Güterbahnhöfen kennt. In den vergangenen Wochen wurde das Sillenbucher MAN-Stahlhaus wieder aufgebaut. Nur das Dach ließen die Jako-Leute weg, hineinregnen kann es ja nicht, weil das Gebäude in einem Gebäude steht. Wofür der Aufwand? „Es wäre viel schwieriger, wenn wir Teil für Teil bearbeiten würden anstatt das ganze Objekt“, antwortet Hubert Maucher.

Maucher ist der Projektleiter. Sein halbes Leben arbeitet der 40-Jährige bereits für das Familienunternehmen Jako, das 1890 als Ein-Mann-Zimmereibetrieb begann und heute mehr als 60 Leute beschäftigt. In seinem Metier, sagt Maucher, sei nichts unmöglich: „Technisch finden wir immer eine Lösung, es ist alles nur eine Geldfrage.“ Bei dem aktuellen Projekt „Translozierung MAN-Stahlhaus“ beträgt sein Budget 600 000 Euro. Das Geld kommt größtenteils vom Land.

In der Regel haben es Maucher und seine Kollegen mit Gebäuden aus Holz und Stein zu tun. Wenn ein Balken vom Hausbock zerfressen ist oder eine feuchte Mauer bröselt, wissen sie genau, was zu tun ist, um möglichst viel von dem Originalmaterial zu erhalten. Wenn die Substanz nicht mehr für eine Restaurierung ausreicht, werden Bauteile rekonstruiert. Kürzlich wurde beispielsweise das 1406 erbaute Effringer Schlössle für das Schwarzwälder Freilichtmuseum aufbereitet. Dort wird das jahrhundertealte Gebäude zurzeit in seiner ursprünglichen Pracht aufgebaut.

Keimzelle für eine neue Epoche

Das MAN-Stahlhaus ist nicht nur viel jünger, sondern auch völlig anders konstruiert. Zimmermänner, Maurer und Stuckateure können bei der Restaurierung nur bedingt auf ihre Erfahrungen zurückgreifen, eigentlich wäre ein Karosseriebauer gefragt. „Die größte Herausforderung ist, den Rost abzuwaschen, ohne dass dabei der historische Lack angegriffen wird“, sagt Maucher.

Von der Korrosion am stärksten betroffen ist naturgemäß die Wetterseite des Hauses, wo jahrzehntelang der Regen durch die Fugen zwischen den Stahlblechen rann. An dieser Front wurden auch irgendwann die hölzernen Fensterläden durch witterungsbeständigere Kunststoffläden ersetzt. So können nun zumindest die Schreiner bei Jako ihrem gelernten Handwerk frönen und Replikate der Originale herstellen. Anderes, etwa eine Strukturtapete aus den 50er Jahren, muss hinzugekauft werden. Die Arbeiten, sagt Maucher, kämen gut voran: „Wir liegen voll im Zeitplan.“

Diese Botschaft freut vor allem Michael Happe. Der Leiter des Freilandmuseums Wackershofen fährt regelmäßig mit seinem Passat ins 200 Kilometer entfernte Illerbachen, um sich selbst ein Bild von seinem künftigen Großexponat zu machen. Der Mittfünfziger würde mit seinem Wollmantel und seiner Hornbrille eher in ein Opernhaus als in eine Industriehalle passen. Er beschäftigt sich normalerweise auch nicht mit Rostschutz, sondern mit Kulturgeschichte. Das MAN-Stahlhaus, sagt er, „soll eine Keimzelle für einen Bereich der Nachkriegsarchitektur werden“. Eine Tankstelle, eine italienische Eisdiele und eine Bushaltestelle aus den 1950ern könnten demnächst hinzukommen.

Bisher bringen die 70 Gebäude, die in Wackershofen besichtigt werden können, den Besuchern den Alltag ihrer Vorfahren nahe. Bauernhöfe, Handwerkerhäuser oder Mühlen zeigen, wie die Menschen lebten, als es noch keine Autofabriken, Fernseher oder Tiefkühlpizzen gab. Noch wird ausgeblendet, wie sich Land und Leute während der Wirtschaftswunderjahre veränderten. Das MAN-Stahlhaus ist ein ebenso außergewöhnliches wie stilprägendes Beispiel für die Architektur und das Lebensgefühl dieser Zeit. Es war das Vorbild für Fertighäuser, die in den 1960er Jahren von Konzernen wie Streif, Kaufhof und Quelle massenweise produziert und verkauft wurden.

Bis August soll das Stahlhaus restauriert sein. Dann wird es zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres demontiert, auf Lastwagen verladen und quer durchs Land gekarrt. Bis Ende Oktober dürfte es dauern, bis das Gebäude in dem Freilandmuseum bei Schwäbisch Hall komplett aufgebaut ist.

Geschichtsträchtiges Gebäude

Im Frühjahr kommenden Jahres will Happe mit der Möblierung beginnen. Bis dahin, so hofft er, finden sich auf Dachböden und Kellern noch ein paar passende Einrichtungsstücke. Manches will der Museumschef aber genauso zeigen, wie er es im Frühjahr vergangenen Jahres in Sillenbuch vorgefunden hat, etwa die mit Postern tapezierte Wand in einem Dachzimmer. Schließlich seien auch Bands wie Steppenwolf, Led Zeppelin und Ten Years After typisch für diese Epoche.

Wie es sich für einen Kulturwissenschaftler gehört, hat Happe die Vergangenheit des Hauses und seiner Bewohner akribisch recherchiert: 1958 kaufte Ludwig Geißel die Sillenbucher Immobilie für sich und seine Familie. Als Direktor des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche fädelte Geißel den Freikauf von DDR-Häftlingen ein. Im Wohnzimmer, das wie das gesamte Stahlhaus überaus hellhörig war, verhandelte der damalige Kanzleramtschef Wolfgang Schäuble mit dem SED-Sekretär Alexander Schalck-Golodkowski. In der Dachkammer darüber saß derweil Volker, der Sohn des Hauses, vor seiner Posterwand.

Im kommenden Jahr will Volker Geißel, inzwischen 70 Jahre alt und Rentner, sein restauriertes Elternhaus in Wackershofen inspizieren. Er wird nicht der einzige Besucher sein, der sich beim Anblick von Nierentisch, Fernsehtruhe und Gummibaum in seine Jugend zurückversetzt fühlt.