Nach Charlottesville gehen digitale Aktivisten gegen Rechtsextreme vor. Das zeugt von der Abwehrbereitschaft der Zivilgesellschaft. Aber es birgt auch Risiken.

Stuttgart - Für einen Moment schien die Bewahrung des liberalen Rechtsstaats in den USA eine Frage der puren Feuerkraft. Nach den Ausschreitungen ultrarechter Demonstranten in Charlottesville, Virginia, bei denen eine Frau zu Tode kam, wies Terry McAuliffe, der Gouverneur des Bundesstaates, darauf hin, dass die rechten Milizen schwer bewaffnet aufmarschiert und mit ihren Sturmgewehren den eingesetzten Polizeikräften überlegen gewesen seien. Die Schlussfolgerung aus diesen Worten schien zu sein, dass, um Neonazis, Ku-Klux-Klan-Brüder und sonstige Alt-Right-Extremisten in Schranken zu halten, künftig Panzer auffahren müssten.

 

Dann aber griffen Netzaktivisten ein, und die Kultur der dezentralen digitalen Anarchie stellte sich den teils in Sturmtrupps angetretenen gestiefelten Hasskameraden. Massenweise wurden Fotos der Demonstranten von Charlottesville ins Netz geladen, mit der Bitte um weitere Verbreitung und schnellstmögliche Identifizierung der Abgelichteten. Derart erkannte Personen werden nun per Twitter, Anruf, Facebook-Eintrag oder E-Mail bei ihren Arbeitgebern als Rassisten gemeldet. Mittels Rufschadensdrohung wird sozialer Druck aufgebaut, brutale Schläger, Träumer von einer neuen Sklavenhaltergesellschaft oder bloß Mitlaufende zu entlassen.

Ein Provider greift durch

Das sehen manche erleichtert als reaktionsschnelle Gegenwehr der Zivilgesellschaft, als zeitgemäße Zerschlagung gefährlicher antidemokratischer Strukturen. Ein rascher und schöner Sieg dieser Bewegung schien gekommen, als die hetzerische rechte Website „Daily Stormer“ die bei den Unruhen von einem terroristischen Amokfahrer getötete Heather D. Heyer verhöhnte. Der Webprovider GoDaddy kündigte umgehend an, den bisherigen Kunden „Daily Stormer“ binnen 24 Stunden von seinen Servern zu schmeißen.

In den nächsten Tagen aber werden sich vermutlich jene gruseligen Geschichten häufen, von denen erste bereits durch Netz und Medien gehen: Menschen, die gar nichts mit den rechten Protesten in Charlottesville zu tun hatten, sind als angebliche Hassfratzen an den Pranger gestellt und bedrohtworden. Das Doxing, wie das Suchen im Netz nach Informationen zur Identifizierung von Personen in der Cyberkultur genannt wird, ist eben ein fehlerträchtiger Prozess. Außerdem ist es kein exklusives Schwert in den Händen der Guten beim Kampf gegen braunes Gelichter mehr. Auch Alt-Right-Seiten machen nun virtuell Jagd auf Gegendemonstranten, die auf Fotos aus Charlottesville zu sehen sind.

Die Mär von der Zensur

Fehlidentifizierungen und Rufmord, Beleidigungen und Bedrohungen kann man zur Not noch als Aufgabe einer leider haltlos überforderten Justiz sehen. Ein anderes Problem der Cyber-Gegenwehr nach Charlottesville ist gerichtlich aber nicht zu klären. Amerikas rechte Populisten spinnen – wie ihre Gegenstücke in Europa – die Fiktion, sie würden von einem linken Staats- und Medienapparat systematisch mundtot gemacht, sie müssten um ihr Recht auf freie Meinungsäußerung mühsam kämpfen.

Entschlossene Maßnahmen wie die von GoDaddy mögen einzelnen Projekten wie dem „Daily Stormer“ den Garaus machen, der Alt-Right-Bewegung insgesamt werden sie eher Zulauf verschaffen. Sich als Opfer von Zensur darstellen und der sonst auf weltanschauliche Neutralität von Providern pochenden digitalen Elite Heuchelei und Doppelzüngigkeit vorwerfen zu können, wird Alt-Right mindestens so viel nützen wie der offene Terror von Charlottesville geschadet hat.