Nach fast drei Jahren künstlerischer Pause meldet sich Helene Fischer mit einem neuen Album zurück. Der Hype ist riesig. Aber was taugt „Rausch“ wirklich?

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Irgendwann schafft sie es dann doch wieder: Gerade hat man sich bei dem Gedanken ertappt, ausgerechnet dieses neue Album von Helene Fischer, das den Titel „Rausch“ trägt, könnte keinen einzigen Titel bringen, bei dem in guter alter „Atemlos“-Tradition einfach nur die Post abgeht – da kommt auf der zweiten CD endlich mit der Startnummer 9 der Song „Jetzt oder nie“. Und schon können Kopf, Arme, Füße, Herz und Hirn gar nicht anders, als umgehend mitzuwippen, mitzuschnippen und mitzugrooven.

 

„Morgen kann alles vorbei sein, / das wird hier unsere Zeit sein“, singt die Fischer wieder von dem Gefühl, nur auf diesen einen großen Augenblick in dieser einen heutigen Nacht käme es in unserem ganzen Leben an. Und wir feiern mit, obwohl wir wissen, dass dies alles nur ein Hirngespinst ist. Aber ein bisschen Illusion und süße Erinnerung an die deutschlandweiten „Atemlos“-Ekstasen von einst dürfen schon sein – auf diesem neuen Album der inzwischen 37-jährigen Sängerin. Das durchaus anders ist als die sieben zuvor.

Freitag, Punkt null Uhr, wurde Helene Fischers jüngstes Werk im Netz freigeschaltet - in den Tagen zuvor hatte die Berichterstattung über sie in Boulevard- und Regenbogenpresse und auf den Promiklatsch-Plattformen im Internet geradezu hysterische Züge angenommen. Kein Tag verging ohne neue Enthüllung aus dem Privatleben der Sängerin. Ihre Fans erfuhren nicht nur von ihrer Schwangerschaft, bald kursierten auch schon Wackelfotos von der werdenden Mutter mit, Huch!, „Babybäuchlein“, ergänzt durch Gerüchte über eine entweder kurz bevorstehende oder vielleicht auch schon vollzogene heimliche Hochzeit mit ihrem Partner Thomas Seitel. Da musste auch Helene Fischer in einer Youtube-Livesendung am Donnerstagabend zugeben, normal tickenden Menschen könne der „Helene-Hype“ vermutlich auf den Keks gehe. Sie selbst brauche die ganze Aufregung um ihre Person übrigens rein gar nicht; sie wolle eigentlich „nur Musikerin“ sein.

Die Musikerin steht auf dem Prüfstand

Nun ist „Rausch“ endlich veröffentlicht – und die Musikerin Helene Fischer steht auf dem Prüfstand. Das Album ist für ihre weitere Karriere von großer Bedeutung. An ihren enormen Qualitäten als Sängerin und Performerin kann niemand zweifeln, der sie je schon einmal live auf der Bühne erlebt hat. Sie ist eine Entertainerin, wie es keine zweite in Deutschland gibt. Sie reißt mit ihrer Performance selbst jene heterosexuellen Männer im Publikum mit, die „zu diesem Schlagerkram“ zumindest offiziell nur ihrer Frau oder Freundin zuliebe mitgekommen sind. Und sie könnte jederzeit mit entsprechend neu zugeschnittenen Songs große Shows in den USA bestreiten. Aber dazu muss sie ihr musikalisches Spektrum erweitern, muss neue Stile wagen, endgültig die Grenzen vom deutschen Popschlager hin zum internationalen Pop überschreiten – aber natürlich ohne dabei ihre alten Fans zu Tode zu erschrecken. Schafft ihr neues Album diesen Spagat?

Mit den beiden Vorabveröffentlichungen „Vamos a Marte“ und „Volle Kraft voraus“ steckte Helene Fischer genau dieses Terrain ab. Letzteres ist ein klassischer opulenter Helene-Song für die alte Fangemeinde, der als stille Ballade beginnt, um sich zur Feuerzeug-Hymne zu entfalten. Die Künstlerin kann hier ganz ihre wunderbar klare Stimme strahlen lassen – und zugleich suggeriert der Text, der vom konstruktiven Abschiednehmen am Ende einer langjährigen Beziehung erzählt, dass auch für Fischer nun ein ganz neuer Lebensabschnitt beginnt. Und irgendwie kennt ja jeder so etwas aus seinem eigenen Leben.

„Das ist nicht mehr meine Helene“

Ganz anders dagegen „Vamos a Marte“ („Lass uns zum Mars gehen“); hier singt Fischer nicht nur teilweise auf Spanisch, sondern hat auch den Latin-Pop-Star Luis Fonsi engagiert. Mit ihm im Duett entwickelt sie den Song ebenso zielstrebig wie energisch vom Schlager zum klubtauglichen Dancesong mit einem ordentlichen Schuss Elektrobeats. In sehr viel früheren Jahren hätte man zu diesem Titel gesagt: Das ist eher was für die internationale Hit- als für die deutsche Schlagerparade. Und prompt äußerten dann auch nach Veröffentlichung viele Fischer-Fans in den sozialen Netzwerken Abscheu und Empörung über „Vamos a Marte“: „Das ist nicht mehr unsere Helene“.

Doch so sehr die beiden Vorab’s polarisierten, das Album „Rausch“ selbst mit insgesamt 24 Titeln macht einen ganz anderen Gesamteindruck, will da gar keine Richtungsentscheidung erzwingen, sondern probiert lieber hier und da ein bisschen was aus, während andere Titel so klingen, als hätte man sie früher schon gehört. In der Summe ist das weder richtig großballadig noch verrückt tanzversessen und schon gar nicht grenzüberschreitend; es ist eher eckig und kantig als rund und mitreißend. Man merkt das Bemühen, jedem einzelnen Songs einen singulären Charakter zu geben, ohne damit stets zum Ziel zu kommen. Immerhin: Helene Fischer möchte die Aufmerksamkeit offenbar endlich auf sich als wahre Interpretin ziehen. Weniger Maschine, mehr Mensch.

Zwei ruhige Songs überzeugen besonders

Das gelingt ihr das am überzeugendsten bei zwei sehr ruhigen Nummern: „Danke für Dich“ und „Luftballon“ erzählen einfühlsam von dem Gefühl, einen Menschen für immer verloren zu haben, und von dem Wunsch, ihm doch verbunden zu bleiben. Das singt sie sehr schön und eindringlich – zu bemerkenswert sparsamer musikalischer Begleitung. Da wird man still.

Und wenn an dieser Stelle noch ein Favorit genannt sein soll, dann ist es das „Wir werden eins“ – ein schön rockig-grooviger Song, mit dem Helene Fischer bei künftigen Live-Konzerten ihr großes Publikum wunderbar zusammenschmieden kann. Denn entscheiden wird sich der Rang und Erfolg des Albums „Rausch“ wohl nicht in den Wohnzimmern, sondern wieder live auf den Bühnen, dort, wo Helene Fischer einfach unschlagbar ist. 2022 soll es immerhin einen Live-Auftritt geben, am 20. August auf dem Münchner Messegelände. Laut Veranstalter wurden dafür in den ersten 24 Stunden nach Vorverkaufsstart schnell mal eben 100.000 Tickets verkauft. Die Helene-Fischer-Fans sind und bleiben im Vollrausch.

Neues Album, neue TV-Shows

Musik
Helene Fischer: Rausch. Polydor (Universal Music). Verschiedene Editionen, ab ca. 16 Euro.

Fernsehen „
Helene Fischer: Im Rausch der Sinne“. Die Künstlerin stellt ihr neues Album in einem eigenen Konzertfilm vor. ZDF, Samstag, 16. Oktober 2021, 21.45 Uhr