Das Literaturhaus Stuttgart hat sich manches einfallen lassen, um über die Krise zu kommen. Es lohnt sich auf jeden Fall vorbeizuschauen – virtuell, versteht sich.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Klar, man könnte weiterhin einfach das ausgefallen Literaturleben im Netz nachstellen, wo gerade überall Autoren mit metallischer Stimme und seltsam verzogenen Proportionen mit ruckelnder Gemütlichkeit im heimischen Wohnzimmer auf Lesereise gehen. Was natürlich unendlich viel besser ist als nichts. Nur wirklich toll ist es eben auch nicht. Da muss man sich schon etwas einfallen lassen. Und genau das hat die Leiterin des Stuttgarter Literaturhauses, Stefanie Stegmann, zusammen mit ihrem Team beherzigt. Nachdem die Corona-Krise gleich zu Beginn ein monatelang geplantes mehrtägiges Festival zum Thema Sehnsucht dauerhaft in einen Gegenstand derselben verwandelt hat, und hier wie überall seitdem die Türen verschlossen bleiben, lohnt es sich inzwischen wieder, mal vorbeizuschauen. Natürlich nur im übertragenen Sinn. Auch hier führt kein Weg an der digitalen Bühne vorbei. Doch was im Mai geboten wird, kann sich sehen lassen, und ist deutlich anders als das Übliche nur mit Pixel.

 

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„Wir wollten nicht einfach eine klassische Lesung eins zu eins aufs Netz übertragen, sondern Formate entwickeln, die im Digitalen besser funktionieren“, sagt Stefanie Stegmann, die sich mittlerweile mit Playlists, Streams und Podcasts so gut auskennt wie mit dem traditionellen Medium aus Papier und Einband. Und wer dies für Flausen hält, liegt genau richtig. Denn „Flausen“ ist ein neuer Literaturpodcast überschrieben, eine Art Plauderstunde mit der Lyrikerin Carolin Callies, in der verrückte Einfälle und Gedankenspiele auf die leicht verrückte Situation reagieren, in der wir uns gerade alle zurechtfinden müssen.

Zum Auftakt hat sie den österreichischen Spezialisten für alles was unter dem Begriff Flause literaturfähig gemacht werden kann, Clemens Setz, aufs virtuelle Sofa gebeten. Wobei sich als die größte Flause sein mittlerweile ungeheurer Bart erwiesen hat, der sich derart mit dem Mikro verheddert hat, dass man ihn nur undeutlich verstehen kann. Macht nichts, etwas Unverständlichkeit hat Literatur noch nie geschadet. Und Unvollkommenheiten gehören zum Charme der Unternehmung. Schon spukt in Stefanie Stegmann die Idee einer Art Best-of des Gescheiterten durch den Kopf. Für den nächsten Podcast wurde Ulrike Almut Sandig engagiert, was für die akustische Qualität hoffen lässt, ihr Freund ist Toningenieur.

Gästebuch der Ausgeladenen

Produktiv geworden ist der Krisenmodus auch in der mittlerweile stattlichen Sammlung von „Minutennovellen“, die die ursprünglich eingeladenen Autorinnen und Autoren auf der Website zurückgelassen haben, gewissermaßen ein literarisches Gästebuch derer, die vom Virus wieder ausgeladen wurden. Aus dem Aufruf, in eher weniger schönen Zeiten sich auf Ausdrücke der Schönheit zu besinnen, gingen schon zahlreiche Einsendungen nebst Erläuterungen hervor. Aus der Sammlung soll ein Lexikon der Schönheit entstehen, die Lyrikerin Kerstin Preiwuß wird das kollektive Wortfindungsprojekt mit einem Webinar begleiten.

Eine Premiere auf vertrautem Boden dürfte der Livestream der Präsentation von Anna Katharina Hahns neuem Roman „Aus und davon“ am 19. Mai um 18 Uhr direkt aus dem Stuttgarter SWR-Studio sein. Im plexiglasbeschirmten Gespräch mit der Literaturkritikerin Katharina Borchardt folgt die Stuttgarter Autorin kleinen und großen Fluchten, die in der Stadt ihren Ausgang nehmen. „Ich werde die Gäste vor Ort begrüßen als wäre es bei uns“, sagt Stefanie Stegmann. Wer den Live-Auftritt verpasst, kann sich das Ganze hinterher als Audioschleife auf der Seite des Literaturhauses anhören. Dass Anna Katharina Hahn in den Bart nuschelt, ist eher unwahrscheinlich.