Verschobene Realitäten, Alzheimer, Spielsucht: Der Animationsfilm kann Phänomene auf ganz andere Art bebildern als der Realfilm, das hat am Dienstag die erste Wettbewerbsrolle des Stuttgarter Trickfilm-Festivals erneut bestätigt.

Stuttgart - Eine Frau hat im Bahnhofs-Café ihren Kopf vergessen – zum Glück liegt er noch auf dem Tisch. Sie klemmt ihn unter den Arm und eilt zum Zug, sie möchte fort, ans Meer. Wäre da nur nicht „die Verrückte“, die sie verfolgt. Bald stellt sich heraus, dass es sich um ihre Tochter handelt und um eine der anrührendsten Alzheimer-Geschichten seit langem, die Franck Dion (Frankreich) in pastelligem 3D-Trick inszeniert hat.

 

„Ein Kopf verschwindet“ hat am Dienstagabend im Gloria-Kino den Internationalen Kurzfilmwettbewerb und damit das Stuttgarter Trickfilm-Festival selbsteröffnet. Beide Säle waren schon Tage vorher ausverkauft, was nicht allein an der ungebrochenen Popularität des Animationsfilms in Stuttgart liegt: Nach einer umfassenden Renovierung mit technischer Aufrüstung bieten die Kinos mehr Beinfreiheit, aber weniger Plätze als noch 2016.

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Wieder einmal hat sich schon an diesem ersten Abend gezeigt, welche visuelle Kraft und welche Möglichkeiten im Trickfilm stecken. In Erinnerungsschwaden ziehen an Dions Alzheimer-Patientin Hühner vorbei, die ihr Vater einst enthauptete, dann wieder wähnt sie sich in einer surrealen Unterwasserwelt, in der ihr ein gigantischer Fisch den Kopf stiehlt. Am Strand angekommen, hat die Mutter einen lichten Moment. Doch sie wirkt winzig klein neben ihrer Tochter, als würde sie nicht nur geistig verschwinden, sondern auch körperlich.

„Die Werke haben ja keine Bedeutung“, sagt der Museumswärter.

Jochen Kuhn („Neulich“), Professor an der Ludwigsburger Filmakademie und ein regelmäßiger Gast beim Trickfilm-Festival, schaut in „Zentralmuseum“ wie schon in seinem Realspielfilm „Fisimatenten“ (2000) mit dem ihm eigenen lakonischen Witz die Kunstszene. Die Gemälde fließen weniger, als man es von Kuhn schon gesehen hat, aber die Ironie sitzt, wenn da ein eher kunstferner Mann ein Museum erbt von einem Onkel, den er kaum kannte.

„Ich habe es befürchtet“ sagt er angesichts des Motivs einer nackten Frau in der Badewanne, „dieser Realismus“. Es kämen keine Besucher mehr, seit die Heizung abgeschaltet sei, erklärt der alte Wärter, ein echtes Faktotum. Und er fügt an: „Die Werke haben ja keine Bedeutung.“ Dabei drehen sich die fiktiven Exponate um alles, was die Menschheit derzeit umtreibt, wenn man nur hinschaut. Der Erbe aber fragt: „Wem tut man damit einen Gefallen? Onkel, Onkel. Ich weiß du hast es nur gut gemeint. Alle meinen es immer nur gut.“

Ebenfalls ins Schwarze trifft Ross Hogg (Großbritannien) in seinen Zeichentrickfilm „Life Cycles“. Er zeigt in schneller Schnittfolge immer denselben Tagesablauf, duschen, essen, Arbeit, ein Seufzer beim Blick auf die Masse an digitalen Nachrichten, und dazwischen die Terrormeldungen vom Tage. Mit der fantastischen Grenzenlosigkeit des Mediums spielen Igor Melnikov und Natalia Mirzoyan in „Die Luke“. Ein scheinbar ganz normale Zeitgenosse findet auf seiner Tapete eine Unregelmäßigkeit und dann eine Klappe im Boden, die in eine Art Spiegel seiner Wohnung führt. Bald gerät so ziemlich alles außer Kontrolle, die Inhalte der Wohungen mischen sich und mutieren, während sich zugleich seltsame Wesen einnisten. Eine herrlich abgedrehte Albtraumfarce ist das, wie sie nur mit Animation verwirklicht werden kann.

Im Leben ein Verlierer, im Online-Spiel ein Held

Auch im Dokumentarfilm erweitert sie die Palette, Ari Folman hat in „Waltz With Bashir“ (2008) Grausamkeiten des ersten Libanonkrieges mit Animation bebildert, die real nicht zu ertragen gewesen wären. Jonas Odall (Schweden) nun nutzt sie, um in „I Was A Winner“ Online-Rollenspieler zu Wort kommen zu lassen, bei denen die kleine Flucht zur Sucht geworden ist. Er zeigt sie als Krieger, Räuber und Affenkreaturen im Fantasy-Szenario, während sie berichten, wie das Spiel sie förmlich einsaugte. „Mein Vater hat immer gesagt, ich wäre ein Verlierer, hier bin ich ein Held“, sagt einer. Eine Frau berichtet, die Beziehung zu ihrem Partner habe nur noch im Spiel stattgefunden, während sie Rücken an Rücken vor den Rechnern saßen. Kinder bekommen? „Ein Horror, ich wusste, dass ich dann nicht mehr so viel würde spielen können“, sagt einer. Ein bestürzendes Zeugnis ist dieser Film, denn Odall kommt den Spielern sehr nahe, die offenherzig bekennen, wie viel Reales sie verpasst haben.

Manchmal reicht auch schon eine kleine, humoristisch gewandete Parabel, u Menschen ins Grübeln zu bringen. Tomer Eshed (Deutschland) widmet sich in in „Our Wonderful Nature“ in brillanter 3D-Animation dem gemeinen Chamäleon. Erst fängt es mit seiner klebrigen Zunge eine kleine Fliege, dann einen dicken Brummer, der kaum in sein Maul passt. Obwohl es satt ist, kann es nicht anders, als noch nach einem knatternden Giganten auszugreifen, der nicht zu sehen ist, aber einen riesigen Schatten wirft. Das kann nicht gutgehen – wie bei allen, die den Hals nicht vollkriegen. „Es ist wirklich ein Wunder, dass es diese Kreatur geschafft hat, zu überleben“, bemerkt der Sprecher, und manche vor der Leinwand beschleicht ein mulmiges Gefühl, was ihre eigene Spezies angeht.