Das Zahnradbahngespräch mit Prominenten aus dem Sport: auf dem Weg nach oben erzählen sie von ihren Karrierehöhepunkten, auf dem Weg nach unten von Tiefpunkten – heute: Martin Schmitt, ein geerdeter Überflieger.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Irgendetwas fehlt. Dieser Gedanke ist plötzlich da, als Martin Schmitt mit seinem sympathisch-schüchternen Martin-Schmitt-Lächeln und mit großen Schritten über den Marienplatz marschiert. So ist er auch immer in Richtung Podium gelaufen, wenn er mal wieder irgendwo auf der Welt bei einem Skispringen auf einem der ersten drei Plätze gelandet ist. Genau, der lila Milka-Helm fehlt, viele Jahre so etwas wie das Markenzeichen von Martin Schmitt. Aber auch ohne den Helm fühlt man sich sofort wieder hineinversetzt in die Zeit, als er Stammgast in den deutschen Wohnzimmern war. In einer sportinteressierten Familie gab es praktisch keinen Wintersonntag ohne Martin Schmitt, dem Mann, der gemeinsam mit Sven Hannawald Skispringen hierzulande zum Volkssport gemacht hat. Es herrschte Ende der 90er und zu Beginn der 2000er Jahre eine generationenübergreifende Begeisterung. „Ziiiieh“, riefen die Väter in Richtung Fernseher, „süüüüß“ die Töchter, wenn sie nicht schon an den Schanzen in Oberstdorf, Hinterzarten oder Willingen standen.

 

„Kann ich noch ganz kurz auf die Toilette gehen?“, fragt Martin Schmitt nach der Begrüßung und sieht auch gleich das Problem an der Sache. „Die Zahnradbahn fährt gleich ab, oder?“ Sie ist dann auch weg, als er aus dem Café Kaiserbau zurückkommt, und das ist ihm sehr unangenehm. Höflich ist Martin Schmitt und erst wieder beruhigt, als ihm gesagt wird, dass die nächste Zahnradbahn bereits in zehn Minuten kommt. Und dann kann es losgehen, das Zacke-Gespräch über Aufs und Abs in einer langen Sportlerkarriere.

Kein Zweifel: Schmitt ist ein leidenschaftlicher Tüftler

Martin Schmitt braucht nicht einmal bis zur Zahnradbahnstation an der Liststraße, um herauszufinden, dass es kein Fehler wäre, mit seinem Gegenüber zunächst einmal die Grundlagen des Skispringens zu erarbeiten. Und dabei kommt beim 36-Jährigen schon deutlich der Student der Trainerakademie in Köln zum Vorschein, wo sich Schmitt auf künftige Aufgaben vorbereitet. Im anschaulichen Zacke-Kompaktseminar Skispringen geht es um den Oberkörperwinkel beim Absprung, den Body-Mass-Index des Springers, die Luftanströmung, die Skilänge und wie in dieser komplexen Sportart eins mit dem anderen zu hat. „Alles verstanden?“, will Martin Schmitt wissen. Fast alles.

Aber ganz klar ist sofort: hier spricht ein leidenschaftlicher Tüftler, ein Perfektionist, der das Zusammenspiel zwischen Athletik und Technik stets verbessern wollte. Und hier liegt wohl auch die Antwort auf die Frage, warum Martin Schmitt immer weitergesprungen ist und erst im Januar dieses Jahres seine Karriere beendet hat. „Es hatte für mich einen großen Reiz, die wechselnden Situationen zu bewältigen“, sagt der Schwarzwälder. Neue Anzüge, kürzere Ski, andere Bindungen, ein verändertes Wertungssystem – im schnellen Wandel des Skispringens war Martin Schmitt fast schon so etwas wie die einzige Konstante.

Das Mannschaftsgold 2002 – ein dramatischer Wettkampf

„Als ich im Weltcup angefangen habe, hingen gerade einmal zwei Windfähnchen an der Schanze, wir mussten die Ski selbst präparieren, und an den Schanzen gab es kaum Lifte“, sagt Martin Schmitt, der nach Degerloch hinauffährt und jetzt auch zu den Höhepunkten in seiner Karriere kommt. Zum deutschen Mannschaftsgold 2002 in Salt Lake City. In einem dramatischen Wettkampf holten sich Schmitt, Sven Hannawald, Stephan Hocke und Michael Uhrmann den Olympiasieg mit dem knappsten möglichen Vorsprung von 0,1 Punkten. Wenn Martin Schmitt davon erzählt, hört sich das aber gar nicht so dramatisch an. Er sagt nur: „Eine schöne Sache.“

Er wird auch nicht euphorischer, wenn er von seinen Weltmeistertiteln im Einzel von der Großschanze und mit der Mannschaft erzählt. 1999 im Ramsau und 2001 in Lahti gelangen ihm diese Doppelerfolge. Insgesamt holte er 28 Weltcupsiege, drei olympische und zehn WM-Medaillen.

Der Popstarrummel war ihm immer ein bisschen suspekt

Martin Schmitt kann sich am eigenen Erfolg weniger begeistern als am Weg dorthin. Ist es auch die Suche nach dem perfekten Sprung gewesen, die ihn so lange angetrieben hat? „Den einen perfekten Sprung gibt es nicht, weil die Bedingungen immer ganz unterschiedlich sind“, erklärt der Trainer in spe. Sein Weltmeistersprung im zweiten Durchgang sei für die Bedingungen in Lahti schon ziemlich perfekt gewesen. „Im Hang war Aufwind. Ich bin sehr aggressiv abgesprungen und im Telemark gelandet, das war dann Schanzenrekord“, sagt Schmitt und schaut etwas skeptisch, so, als sei ihm das jetzt schon eine Spur zu viel Eigenlob gewesen.

Martin Schmitt ist bescheiden. Und deshalb war ihm der ganze Popstarrummel in seinen Glanzzeiten zwischen 1999 und 2002 immer auch ein bisschen suspekt. Ihm sind dabei weniger die Plakate mit der Aufschrift „Martin, ich will ein Kind von dir“ in Erinnerung geblieben, als eine Szene bei einem Weltcupspringen. „Die Zuschauer stürmten im Auslauf auf mich zu, und plötzlich lag ein Kind auf dem Boden. Ich hatte Angst und hab ihm wieder aufgeholfen “, erzählt Schmitt, der – typisch für ihn – jetzt nicht als Lebensretter gesehen werden will. „Das Kind hätte sicher auch jemand anderes hochgenommen, wenn ich nicht reagiert hätte.“

Den richtigen Zeitpunkt für den Absprung verpasst?

Diese Episode ist dann am Zacke-Wendepunkte in Degerloch die passende Überleitung, um auf der Talfahrt zurück zum Marienplatz auf die Tiefpunkte zu sprechen zu kommen. „Nichts Dramatisches, was sollen da andere sagen?“, wird er in der Folge häufig sagen; zu einem schweren Sturz mit 16, zum Trümmerbruch im Unterarm oder zum Thema Knieverletzungen, die ihn von 2002 an immer wieder zurückgeworfen haben, aber nicht zum Aufhören bewegen konnten.

Wann beendet er denn endlich seine Kariere? Das wurde zuletzt jedes Jahr gefragt. Und dann auch immer wieder: Hat er den richtigen Zeitpunkt für den Absprung verpasst? „Diese Fragen sind natürlich nicht besonders motivierend, aber ich konnte mit ihnen umgehen“, sagt der Mann, der in Tannheim aufgewachsen ist, in Furtwangen das Skigymnasium besucht hat und jetzt mit seiner Frau, die er im April geheiratet hat, in Freiburg wohnt.

Der Bruder als Tippgeber und Vorbild

Ein Skispringer hört auf sein Gefühl und das sagte ihm erst im Januar 2014, dass es genau jetzt genug sei. „Es war der richtige Zeitpunkt, mir fehlt nichts“, sagt Martin Schmitt, der die Vierschanzentournee künftig als Eurosport-Fernsehexperte beobachtet.

Dann spricht er aber über ein einschneidendes Erlebnis in seinem Leben. 1998 wurde bei seinem zwei Jahre älteren Bruder Thorsten, einem erfolgreichen Nordischkombinierer, Krebs diagnostiziert. „Bis dahin waren wir beide völlig unbeschwert, das änderte sich von einem Tag auf den anderen“, erzählt er. Sein Bruder ist schon lange wieder gesund, und er selbst Botschafter der Krebsnachsorgeklinik in Tannheim bei Villingen-Schwenningen. Martin Schmitt erzählt vom Bruder, seinem Vorbild, seinem Tippgeber, der nach überstandener Krankheit noch viele Jahre zur Weltklasse in der Kombination gehörte und Vizeweltmeister mit der Mannschaft wurde. Die Schmitts sind Teamspieler.

Martin Schmitt sitzt jetzt im Café Kaiserbau, wo das Zacke-Gespräch traditionell seine Fortsetzung findet; und dort geht es jetzt um den anderen deutschen Überflieger: Sven Hannawald. „Wir kamen gut miteinander aus und haben uns gegenseitig zu Höchstleistungen angetrieben. Sven hat dem Sport alles untergeordnet. Wenn er von etwas überzeugt war, hat er seine Ziele extrem konsequent verfolgt. Diese Dynamik im täglichen Training zu haben war sicher die Grundlage für unsere Erfolge.“

Und dann verabschiedet sich Martin Schmitt: „Und herzlichen Dank für die Einladung.“ Die bestand am Ende aus einer kleinen Flasche Mineralwasser.