Für den baden-württembergischen Datenschutzbeauftragten Jörg Klingbeil hat das Internet im vergangenen Jahr „seine Unschuld verloren“. Jetzt müssen strengere Regeln her, fordert er, und zwar auf europäischer Ebene.

Stuttgart - Jörg Klingbeil hat es geschafft. Alle zwei Jahre legt der Landesbeauftragte für den Datenschutz seinen Tätigkeitsbericht vor; rechtzeitig zum Tag des europäischen Datenschutzes, der an diesem Dienstag begangen wird, ist das 200-Seiten-Werk fertig geworden.

 

Klingbeil ist diese Koinzidenz von Bericht und Datenschutztag wichtig, denn wenn er es auch nicht mit diesem Wort benennt: Baden-Württembergs oberster Datenschützer befürchtet einen Paradigmenwechsel im Schutz der Bürger vor Überwachung. Klingbeil sagt es so: „Das Jahr 2013 wird als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem das Internet seine Unschuld verlor.“ Im Zuge der durch den US-Geheimdienst National Security Agency (NSA) ausgelösten Spähaffäre sei die Ohnmacht Deutschlands überdeutlich geworden. Darauf müsse Deutschland reagieren, allerdings nicht national, sondern eingebettet in einen europäischen Abwehrriegel.

Für Klingbeil ist die Spähaffäre mit all ihren Folgewirkungen geeignet, das für den Datenschutz grundlegende Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1983 auszuhebeln – jenes Urteil, welches das Grundrecht der Bürger auf informationelle Selbstbestimmung begründete. „Das Verbot der Totalüberwachung“, sagt Klingbeil, „gehört seither zur verfassungsrechtlichen Substanz.“ Und dennoch rücke diese Totalüberwachung näher. Wenn der US-Whistleblower Edward Snowden sage, „unter Beobachtung bewegen wir uns nicht nur weniger frei, wir sind auch weniger frei“, dann könnte dies gerade so auch in der drei Jahrzehnte alten Entscheidung der Karlsruher Verfassungsrichter stehen.

Erfassung normaler Bürger

In seinem Bericht sucht der Landesdatenschutzbeauftragte Zuflucht bei einem Cicero-Zitat: „O tempora, o mores – was für Zeiten, was für Sitten.“ Und er schleudert den Geheimdiensten – Klingbeil hebt die NSA hervor sowie die Aktivitäten des britischen Government Communications Headquarters (GCHQ), nennt aber auch russische und chinesische Dienste – die berühmte Anklage des römischen Konsuls Cicero gegen den Verschwörer Catilina entgegen: „Wie lange noch willst du, Catilina, unsere Geduld missbrauchen?“ Offiziell sollen die Spähangriffe nur der Terrorabwehr gelten, doch Datenschützer Klingbeil moniert, dass „faktisch die normalen Bürger, ja selbst Behörden und Politiker hierzulande“ erfasst werden. Die Amerikaner handelten beim Sammeln von Daten nach der Devise, man müsse den Heuhaufen nur groß genug aufschütten, um ein paar Stecknadeln darin zu finden. Dagegen setzt Klingbeil das Leitprinzip des in der europäischen Freiheitsgeschichte entwickelten Datenschutzes, das dem Staat gebiete, sich zunächst aus den persönlichen Dingen der Menschen herauszuhalten.

Doch der Datenschutz habe sich in der Spähaffäre als hilflos erwiesen, klagt Klingbeil. Es sei schon „frustrierend, wenn wir uns permanent um die alltäglichen Probleme des Datenschutzes kümmern“, also um unerwünschte Werbung per E-Mail oder um den Nachbarschaftsstreit um eine Videokamera, und zugleich ausländische Nachrichtendienste „ungeniert auf den weltweiten Kommunikations- und Internetverkehr zugreifen“. Immerhin habe die NSA-Affäre als eine Art „Weckruf“ gedient, nötig sei jetzt ein „Datenschutz made in Europe“.

Auf EU-Ebene kommt der Datenschutz nicht recht voran

Doch mit der EU-Datenschutzreform geht es nicht recht vorwärts. Geplant ist eine europäische Datenschutz-Grundverordnung, welche die bestehende EU-Richtlinie zum Datenschutz ablösen soll. Den Entwurf hatte die EU-Kommission bereits Anfang 2012 veröffentlicht. Die im Oktober 2013 beschlossene Kompromissfassung des EU-Parlaments sieht vor, dass personenbezogene Daten nur noch auf der Basis von Rechtshilfeabkommen oder internationalen Vereinbarungen weitergegeben werden dürfen – bei voller Transparenz gegenüber Aufsichtsbehörden und gegebenenfalls auch den Betroffenen. Ursprünglich sollte die Grundverordnung noch vor der Wahl des EU-Parlaments verabschiedet werden. Aber damit rechnet Klingbeil nun nicht mehr: „Das dauert weitere zwei Jahre.“ Die Verordnung soll das Recht auf Vergessenwerden enthalten und sich auch auf Unternehmen außerhalb erstrecken, also etwa auf Facebook und Google. Bis jetzt gilt für diese Konzerne das „Safe-Harbor“-Abkommen, auf dessen Grundlage sie sich verpflichteten, sorgsam mit den Daten aus Europa umzugehen. Doch seit dem von Edward Snowden ausgelösten Prism-Skandal – die Abschöpfung der Daten durch den Geheimdienst NSA betreffend – gilt „Safe Harbor“ als nutzlos. Datenschützer Klingbeil plädiert für eine Aussetzung des Abkommens, dem er „bestenfalls noch symbolische Bedeutung“ beimisst. Zudem verlangt er, in den Verhandlungen über ein transatlantisches Freihandelsabkommen mit den USA gleiche Datenschutzstandards für Amerikaner wie Europäer zu vereinbaren. Parallel sei ein völkerrechtliches Abkommen zur Eindämmung von Geheimdienstaktivitäten erforderlich, weil europäisches Recht fremde Geheimdienste nicht binde.

Rechtliche Lücken in Baden-Württemberg

Dass es freilich auch in Baden-Württemberg Lücken gibt beim Schutz der Bürger vor Überwachung, demonstriert Datenschützer Klingbeil am Beispiel des Landesverfassungsschutzes und des Großen Lauschangriffs. Aus für Klingbeil unerfindlichen Gründen hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Großen Lauschangriff im baden-württembergischen Verfassungsschutzrecht noch immer keinen Niederschlag gefunden. In ihrer Entscheidung aus dem Jahr 2004 hatten die Richter einen „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ – etwa das Schlafzimmer einer Wohnung – von der akustischen Überwachung ausgenommen. Lediglich das baden-württembergische Polizeirecht wurde an die neuen Rechtslage – auch das nicht überstürzt – im Jahr 2008 angepasst. Weiteres unterblieb jedoch. Die Landesregierung stellte jedoch nur klar, dass Regelungsbedarf bestehe, die Verfassungsschützer derzeit aber keine Großen Lauschangriffe unternähmen. Wenn dieses Überwachungsinstrument nicht benötigt werde, so Klingbeil, dann stelle sich indes die grundsätzliche Frage, „ob dieser gravierende Grundrechtseingriff überhaupt erforderlich ist“.