Das Coronavirus stellt den Alltag auf den Kopf – das ist für Menschen mit Demenz besonders schwierig. Oft verstehen sie nicht, warum Gewohntes plötzlich fehlt. Viele Angehörige suchen Hilfe beim Beratungstelefon der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg.

Leserredaktion : Kathrin Zinser (zin)

Stuttgart - Normalerweise bekam die an Demenz erkrankte Frau im Pflegeheim täglich Besuch von ihrem Ehemann. Sie versteht nicht, warum er jetzt nicht mehr kommt, sucht ihn verzweifelt in sämtlichen Zimmern und versucht, das Heim zu verlassen. Kürzlich hat sie panisch um Hilfe geschrien – sie werde hier festgehalten. Sie ist verängstigt und lässt sich kaum noch ablenken.

 

Stark verunsichert ist auch ein Senior mit Demenz, der mit seiner Ehefrau zu Hause lebt und vor der Kontaktsperre häufig draußen war. Doch der Kaffeenachmittag in der Begegnungsstätte fällt seit Wochen aus. Seine Frau will, dass er zu Hause bleibt, damit er sich nicht mit dem Coronavirus infiziert. Der Mann versteht das nicht, reagiert zunehmend unruhig und aufbrausend. Er hat seine Frau körperlich angegriffen. Diese verzweifelt an der Situation.

Die Routine fehlt

Solche Berichte von Angehörigen hören die Mitarbeiterinnen der Alzheimer-Gesellschaft Baden-Württemberg zur Zeit häufig – auch von Betroffenen aus dem Rems-Murr-Kreis. Der Bedarf an Beratung habe sich durch das Coronavirus verstärkt, sagt Ute Hauser, die Geschäftsführerin der Alzheimer-Gesellschaft in Stuttgart. Aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie fallen viele Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige derzeit weg – Tagesgruppen können nicht mehr zusammenkommen, ehrenamtliche Helfer dürfen den an Demenz erkrankten Menschen nicht mehr besuchen, viele häusliche Dienste haben vorübergehend geschlossen.

Die gewohnte Routine und der geregelte Tagesablauf geraten ins Wanken – dabei seien gerade sie sehr wichtig für Menschen mit Demenz, weil sie eine gewisse Sicherheit vermittelten, erklärt Hauser. „Die Menschen merken, da fehlt was.“ Die Veränderungen durch die Pandemie bedeuteten eine besondere Herausforderung für die Betroffenen – und das umso mehr, je länger sie andauern. Für viele an Demenz Erkrankte sei die Gefahr durch ein unsichtbares Virus nicht nachvollziehbar, zugleich spürten sie die allgemeine Anspannung um sich herum. „Ängste oder aggressives Verhalten sind eine Reaktion auf etwas, das Menschen mit Demenz nicht verstehen“, sagt Hauser. Solche Reaktionen sind für das Umfeld sehr belastend. „Oft brauchen Angehörige dringend Hilfe“, berichtet die Geschäftsführerin der Alzheimer-Gesellschaft.

Verständnis zeigen

Unter anderem mit einem kostenlosen Beratungstelefon bietet der Verband Unterstützung an und berät Angehörige individuell. Gleichwohl gibt es einige Tipps, mit denen Konflikte vermieden werden können, teilt die Alzheimer-Gesellschaft mit. Wichtig sei es etwa, möglichst klare und ruhige Abläufe und Rituale zu schaffen und für ausreichend Bewegung und Beschäftigung des Betroffenen zu sorgen. „Spaziergänge sind ja erlaubt“, sagt Ute Hauser. Zudem sollten Angehörige versuchen, Situationen, die regelmäßig Ärger verursachen, möglichst zu vermeiden oder von ihnen abzulenken. Hilfreich könne sein, Verständnis und Empathie für die Gefühle des Betroffen zu zeigen, etwa mit Sätzen wie: „Ich kann verstehen, dass dich das ärgert. Im Moment müssen sich aber alle gründlich die Hände waschen.“

Menschen mit Demenz reagieren nicht rational

Kommt es dennoch zu einem Streit, könne es helfen, sich kurz zurückzuziehen – auch räumlich. „Menschen mit Demenz reagieren nicht rational“, erklärt Ute Hauser und rät den Angehörigen, Äußerungen nicht persönlich zu nehmen. Damit die Situation nicht eskaliert, sollte man versuchen, möglichst ruhig zu bleiben, nicht zu schimpfen oder zu widersprechen und stattdessen das Gefühl vermitteln, dass man gemeinsam eine Lösung finden wird. Wichtig sei auch, auf ruhige Bewegungen zu achten sowie Gefährliches und Gefährdendes außer Reichweite zu bringen.

Zudem gebe es weitere Versuche, Angehörige in der Corona-Pandemie zu entlasten, berichtet Ute Hauser. So versorgen manche Betreuungsgruppen ihre Schützlinge mit Beschäftigungspaketen, die sie vor die Tür legen. Statt bei Besuchen unterhalten sich ehrenamtliche Mitarbeiter am Telefon mit den Erkrankten. „Es gibt Lösungsansätze“, so Hauser.

Info: Demenz und Alzheimer

Zahlen: In Baden-Württemberg leiden rund 200 000 Menschen an Demenz. Etwa zwei Drittel von ihnen werden zu Hause von Angehörigen betreut. In ein Pflegeheim kommen viele erst, wenn es gar nicht mehr anders geht. Es gibt verschiedene Formen von Demenz, die häufigste ist Alzheimer, das sind 60 bis 70 Prozent der Fälle.

Alzheimer: Bei Alzheimer handelt es sich laut der Alzheimer-Gesellschaft Baden-Württemberg um einen „langsam fortschreitenden Untergang von Nervenzellen und Nervenzellkontakten“, der vor allem jene Abschnitte des Gehirns betrifft, die für das Gedächtnis, das Denkvermögen, die Sprache und die Orientierungsfähigkeit wichtig sind. Dieser Prozess beginnt bereits viele Jahre vor dem Auftreten der ersten Symptome. Das Risiko einer Demenzerkrankung steigt mit dem Älterwerden stetig an. Es gibt aktuell keine Heilungschancen. Mit verschiedenen Maßnahmen kann der Verlauf der Krankheit jedoch zumindest positiv beeinflusst werden.

Hilfe: Die Alzheimer-Gesellschaft Baden-Württemberg bietet Informationen und Tipps im Internet unter www.alzheimer-bw.de. Das Beratungstelefon ist erreichbar unter der Nummer 07 11/24 84 96 63.