Was sollen wir mit dem verseuchten Internet anfangen? Sollen wir es wegwerfen? Fest steht: spätestens seit bekannt ist, dass überall mitgelesen wird, hat das Netz seine Unschuld verloren.

Stuttgart - In altägyptischen Tempeln waren manchmal an Säulen Juwelen angebracht, die zu bestimmten Zeiten, die den astronomisch versierten Priestern bekannt waren, durch den Lichteinfall heller Sterne aufleuchteten und als Zeichen der Götter ausgegeben wurden. Es war ein probates Mittel, die Massen und auch den Pharao fromm zu halten. Im Inneren der sichtbaren Macht, die der Pharao repräsentierte, gab es eine unsichtbare, geheime Macht. Die Priester zeigten ihre Macht nicht, sie hatten sie einfach.

 

Im Sommer 2010 erschien in der „Washington Post“ eine Artikelserie mit dem Titel „Top Secret America“, für die Journalisten zwei Jahre lang recherchiert hatten. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Welt der amerikanischen Geheimdienste inzwischen ein bizarres Ausmaß angenommen hat. Hinter den öffentlichen USA existiere ein zweites, geheimes Amerika. Der damalige Verteidigungsminister Robert Gates räumte in einem Interview ein, der Geheimdienstapparat sei seit den Anschlägen vom 11. September so angeschwollen, dass sogar der Chef der CIA und er selbst nur schwer den Überblick behalten könnten. „In dieser Relation muss man eine Gruppe wie etwa Wikileaks als einen winzig kleinen Versuch ansehen, dagegen anzukämpfen“, sagt Jay Rosen, Professor für Journalismus an der New York University.

USA-Spionage kostet jährlich mindestens 150 Milliarden Dollar

Neben 16 bekannten Geheimdiensten, der sogenannten „Intelligence Community“, leisten sich die USA etwa 30 weitere Spionage-Organisationen. Experten gehen von jährlichen Gesamtkosten von mindestens 150 Milliarden Dollar aus. Diese Geheimnisindustrie wächst seit Jahren unerkannt im Schatten jener Leitvorstellungen, die sich um den optimistischen Begriff „Informationsgesellschaft“ versammelt haben. Diese Industrie hat nur noch wenig zu tun mit verdeckten Operationen aus den Zeiten des Kalten Kriegs. Das Geheimnis ist komplex geworden. Es fluktuiert und funktioniert in der Art von kommunizierenden Röhren: Lässt das Geheimnis an einer Stelle nach – etwa durch Leaking –, gleicht sich die Abschwächung an anderen Stelle wieder aus. Wollte man früher außer Haus ein Telefongespräch führen, gab es Privatsphäre in einer Telefonzelle. Heute steht das verbliebene blanke Rückgrat der Zelle, ein Pfosten aus gebürstetem Stahl, symbolhaft für das Zeitalter der geheimnislosen Kommunikation.

Edward Snowden stellt mit seinen Enthüllungen die Frage neu, was in einem Staat im Geheimen geschehen darf und was nicht. Denn die Überwachung hat ja ungeahnt neue Dimensionen angenommen. Anlasslos und umfassend wird nicht nur die Kommunikation Einzelner, sondern die Kommunikation der gesamten Bevölkerung überwacht – und nicht nur unsere Kommunikation, sondern auch unsere Wege durchs Leben, unsere privaten und geschäftlichen Beziehungen und sogar die Art, wie wir uns verändern („Hat sich sein Bekanntenkreis verändert?“, „Hat er sich radikalisiert?“). Dieses neue Bewusstsein versorgt die Menschen nun mit einem bedingungslosen Grundmisstrauen. Wir leben in einer Welt ohne Wände, nur wollen es manche noch nicht wahrhaben.

Siegeszug des Internets

Als das Internet vor zwanzig Jahren seinen phänomenalen Siegeszug um den Globus antrat, gab es eine Schlüsselerwartung, dass die neuen digitalen Technologien die Gemeinschaft dem Staat überlegen machen und auf diese Weise die Entwicklung der Demokratie – der Herrschaft des Volkes – stärken würden. Aber das Internet, konstatiert der Medienwissenschaftler Tilman Baumgärtel aus langjähriger Netzerfahrung, „ist nicht mehr die ,autonome Zone‘, in die kein Staat hineinregieren kann, sondern es ist inzwischen das beste Instrument staatlicher Überwachung aller Zeiten“.

Der CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl hält das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung demgemäß für „eine Idylle aus vergangenen Zeiten“. Auch für den Soziologen Ulrich Beck liest sich die gesetzliche Zusicherung, das Post- und Fernmeldegeheimnis sei unantastbar, „wie ein Satz aus einer untergegangenen Welt“, allerdings im düsteren Sinn. „Der Staat hat die Bürger und seine Grundrechte zu schützen und nicht diejenigen, die es verletzen“, merkte der Freiburger Historiker Josef Foschepoth anlässlich des praktisch nicht mehr existierenden Grundrechts auf Unverletzlichkeit des Kommunikationsgeheimnisses an und brachte damit das tiefe Misstrauen, das viele nun empfinden, auf den Punkt.

„Das Entscheidende ist, dass wir keine Möglichkeiten haben, tatsächlich zu überprüfen, ob das, was sie uns sagen, wahr ist“, sagt Wolfgang Neskovic, ehemaliges Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums, das die Arbeit der deutschen Geheimdienste kontrollieren soll. Wächst im Inneren der herkömmlichen Staatsmacht eine unsichtbare Macht, die die Demokratie aushöhlt? Und ist das Prinzip der Geheimhaltung eine universelle Methode, sich jeder Rechtfertigung und Transparenz zu entziehen?

Soll man das Internet ausschalten?

Und was tun wir nun mit diesem nachrichtendienstlich kontaminierten Internet? Wegwerfen? Eine „Privatenpartei“ gründen? Die deutsche Kanzlerin hat vom massiven Ausmaß und der möglichen Außergesetzlichkeit der NSA-Datenzugriffe angeblich erst aus der Zeitung erfahren. Und Innenminister Hans-Peter Friedrich fordert nicht Amerikaner und Engländer zu weniger Überwachung, sondern die Deutschen zu „mehr Datenschutz“ auf. Wobei dem Minister klar sein muss, dass die klassischen Methoden des Datenschutzes nichts mehr gegen die technisch fortgeschrittenen Überwachungsmethoden von Nachrichtendiensten wie der NSA ausrichten können.

Die Verbindungsdaten von Telefonaten, Chats und sämtlichen Regungen im Netz reden wie ein Buch, dagegen hilft keine Verschlüsselung mehr. Man darf annehmen, dass in dem neuen, riesigen, in mehreren Hallen untergebrachten Datenkraftwerk, das für die NSA gerade in einem Ort mit dem schönen Namen Bluffdale in Utah errichtet wird, genug Hardware und Software zur Verfügung steht, um jede noch so starke Verschlüsselung zu knacken. Auch Anonymisierungstechniken wie das Onion-Routing – bekanntestes Beispiel „TOR“ – lassen sich unterwandern. Der Aufbau alternativer, dezentraler sozialer Netze ist bisher gescheitert. Alle diese – nahezu nutzlosen – Schutzmöglichkeiten werden von der Bundesregierung im Übrigen weder ernsthaft empfohlen noch gefördert.

„Diejenigen, die bereit sind, grundlegende Freiheiten aufzugeben, um ein wenig kurzfristige Sicherheit zu erlangen, verdienen weder Freiheit noch Sicherheit“ – der das sagte, war kein unbesonnener Heißsporn: Der amerikanische Schriftsteller und Staatsmann Benjamin Franklin hat die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten mit entworfen.

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