Die britische Synthieband Depeche Mode hat am Dienstagabend in der ausverkauften Stuttgarter Schleyerhalle gespielt – und einen fulminanten Auftritt hingelegt.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Auf die Minute genau eine Stunde ist am Dienstagabend in der Schleyerhalle vergangen, da endet die Ouvertüre. Keyboardklänge fluten die Arena, ein verfremdetes Intro, aus dem sich langsam immer bekanntere Harmonien herausschälen. Das Publikum beginnt den Braten zu riechen, wie in Zeitlupe schwillt der Jubel immer stärker an, ehe er sich zu den metallischen Anfangstakten des nun folgenden Lieds in einem kollektiven Begeisterungssturm entlädt.

 

Es erklingt die Melodie von „Everything Counts“. Das Lied ist vor 34 Jahren auf dem dritten Depeche-Mode-Album „Construction Time Again“ veröffentlicht worden, es ist das älteste Lied des britischen Trios, das an diesem Abend gespielt wird, es umreißt, über welche Spanne hier zu reden ist – und es dient als Initialzündung für den jetzt beginnenden, noch einmal eine Stunde währenden zweiten Teil des Abends. „Stripped“, „Enjoy the Silence“ und „Never let me down again“ folgen vor der Zugabe, die dann aus „Strangelove“, „Walking in my Shoes“, „A Question of Time“ und zum Abschluss „Personal Jesus“ besteht. Acht Welthits aus einer bereits weit über drei Dekaden umspannenden Weltkarriere. Jeder für sich von einer Güte, die reichen würde, um allein mit ihm eine Erfolgsgeschichte zu schreiben. Das Publikum in der selbstverständlich ausverkauften Schleyerhalle, zuvor schon reichlich enthusiasmiert, gerät nun berechtigterweise völlig aus dem Häuschen.

Einige Welthits lassen sie sogar aus

Bemerkenswert an der Liedauswahl des Abends ist, dass sich die Band mühelos erlauben kann, gleich eine ganze Reihe weiterer Hits auszulassen. „Just can’t get enough“, „People are People“, „Master and Servant“ oder „Shake the Disease“ zum Beispiel. Die sehr frühen Erfolge – von „Everything counts“ abgesehen – sind aus dem Repertoire verschwunden. Der Fokus liegt umgekehrt aber auch nicht, was ja durchaus erwartbar wäre, auf der Präsentation des aktuellen Schaffens. Nur drei Stücke vom jüngsten, im Frühjahr erschienenen Album „Spirit“ erklingen in der Schleyerhalle, gar nichts sogar von dessen beiden Vorgängern. Der Fokus liegt interessanterweise auf dem exakt zwanzig Jahre alten „Ultra“, fünf der zwölf Lieder des ersten Teils dieses Abends stammen von diesem Album, das die Band offenbar sehr ins Herz geschlossen hat.

Der erste Teil des Abends beginnt pflichtschuldig mit „Going Backwards“, dem Titeltrack des aktuellen Albums, und er endet sinnfällig mit der ersten Singleauskoppelung dieses Albums, mit „Where’s the Revolution“. Also dem aktuellsten Hit von Depeche Mode? Nein, bei dieser Band, bei der in Jahrzehnten gerechnet wird, muss sich dieser Song auch live erst noch ein paar Jährchen bewähren. Und so wäre dann, bei näherem Nachdenken, tatsächlich „Walking in my Shoes“, veröffentlicht 1993 (!), der einstweilen „jüngste“ richtige Hit von Depeche Mode.

„Where’s the Revolution“ funktioniert eher als Scharnier zwischen den beiden Konzerthälften, und so funktioniert das auch gut. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob dies die richtige Strategie für ein Konzert ist: alle Hits am Ende zusammenzuballen und dem eine Stunde lang einen zwar künstlerisch wertvollen, aber eben auch höhepunktarmen Warm-up voranzustellen. Sonderlich variantenreich gerät dieser Teil (wie übrigens die ganze Tournee, bei der an jedem Abend dasselbe gespielt wird) jedenfalls nicht. Das sehr schöne „A Pain that I’m used to“ erklingt in einer Remix-Version, „Insight“ in einer Akustikversion und gesungen von Martin Gore, in „Barrel of a Gun“ mogeln sie ein kleines Sample von Grandmaster Flash hinein. Das war’s dann an Abwechslung, wobei man angesichts des vorzüglichen Songmaterials und der ohnehin gottesdienstähnlichen Ergriffenheit im Publikum von einer schwachen Hälfte gewiss nicht sprechen mag. Trotzdem wird die Wendemarke spür- und am Beifall hörbar herbeigeseht.

Gut Ding will Weile haben

Es hat einige Zeit gedauert, ehe das Konzert ausverkauft war, was ein völlig normaler Umstand wäre, bei Depeche Mode allerdings doch etwas verwundert, denn die Gastspiele der Briten sind üblicherweise Monate im Voraus ausverkauft. Das ist der gewiss etwas unglücklichen Planung geschuldet, bei den vorangegangenen Stadionterminen der Band im Sommer Stuttgart trotz etlicher angesetzter Konzerte übergangen zu haben und hier nun erst auf der nachträglich angesetzten Hallentournee zu spielen. Viele potenzielle Besucher werden sich im Sommer schon für einen Open-Air-Auftritt entschieden haben; hinzu kommt, dass Depeche Mode an diesem Donnerstag auch noch im nahen Mannheim auftritt.

Klanglich besser dran als beim Konzert vor vier Jahren im Stuttgarter Stadion sind die Zuschauer in der Schleyerhalle auf jeden Fall. Qualitativ hochwertig ist der Sound, souverän wird er vorgebracht vom um die beiden langjährigen Livemitstreiter Peter Gordeno und Christian Eigner erweiterten Trio. Die Lightshow und die Videoeinblendungen tun ihr übriges, bemerkenswert ist die sehr niedrige Bühne mit dem versetzt herauskragenden Laufsteg. Er wird, wie könnte es anders sein, vom Sänger Dave Gahan ausgiebig genutzt. In dessen Gesicht sind mittlerweile – wie auch bei Gore – ein paar Zeichen der Zeit sichtbar, unter den Kopf des 57-Jährigen hat der Musikgott allerdings den Körper eines jungen Kontorsionskünstlers geschraubt. So kann Gahan unverdrossen galant und stilsicher über die Bühne tänzeln, seine Pirouetten drehen und am Ende zum nach wie vor packenden „Personal Jesus“, zur Feier eines langen Konzertabends und zum Entzücken der reichlich anwesenden Damenwelt kokett mit dem Bürzel wackeln.

Davor gibt es das erwähnte Hitfeuerwerk, all diese noch immer fantastischen, fesselnden, ergreifenden, so wunderbar in den Bann schlagenden Popklassiker. Ein Publikum, das längst Gahans Job übernommen hat und ausnahmslos jede Liedzeile mitsingt. Eine Halle, die vor Energie vibriert. Und ein Konzert, wie es in diesen Momenten schöner nicht sein könnte. Depeche Mode eben. Unvergleichlich.

2013 waren sie zuletzt hier, davor 2009, 2006 und 2001 in der Schleyerhalle und so weiter und so fort beziehungsweise zurück bis zu ihrem ersten Stuttgarter Auftritt 1982 in der Diskothek Oz. Wünschen wir den Herren also weiterhin gute Gesundheit (sie tun offenbar ihr Bestes und meiden ausufernde Backstagegelage, die Wagen mit der Band rauschten schon wenige Minuten nach Konzertende am Hintereingang der Schleyerhalle davon). Wir blicken frohgemut ins – schätzungsweise – Jahr 2021, in dem das nächste Stuttgarter Gastspiel anstehen dürfte. Wir kommen wieder.