Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf hat sich das Leben genommen, doch bis zuletzt unter dem Titel „Arbeit und Struktur“ auch gebloggt – über sein Leben mit der tödlichen Krankheit, der er jetzt zuvorgekommen ist.

Stuttgart - Da hat einer eine prima Fernsehserie entdeckt. Er notiert am 6. November 2010 in sein öffentliches Tagebuch: „,Breaking Bad‘ und die Idee, alles noch einmal auf den Kopf zu stellen.“ Es ist schön, wenn einem erfundene Geschichten neuen Lebensschwung verleihen können.

 

Aber der Schreibende weiß da schon besser als alle anderen Menschen, wie wenig seine Zukunft von ihm selbst bestimmbar sein wird. Wolfgang Herrndorf hat einen bösartigen Hirntumor. Die quälenden Behandlungen versprechen allesamt nur Symptomlinderung und Sterbensaufschub, keine Heilung. Wenn Herrndorf im Fernsehen „Breaking Bad“ schaut, dann weiß er, dass diese Serie über einen krebskranken Lehrer, der im Angesicht des Todes zum erfolgreichen Verbrecher wird, bei guten Quoten länger leben wird als er.

In der Nacht von Montag auf Dienstag hat sich Wolfgang Herrndorf in Berlin erschossen. In seinem Blog „Arbeit und Struktur“ hat der nur 48 Jahre alt gewordene Autor von „Tschick“ und „Sand“ seit März 2010 notiert, was ihm mit der Krankheit widerfuhr, wie er sich gewehrt hat, wie er nicht mehr konnte, woran er Freude fand. „Erster Besuch in einem regulären Schwimmbad seit dem Zivildienst. alles sehr schön und sonderbar.“ Splitter um Splitter ist so ein dichter Text entstanden, ein ohne Zierlichkeit ausgefeiltes Werk.

Der kluge Hypomaniker

Am 12. März 2010, Herrndorf sitzt in der Psychiatrie, lässt er jenen Galgenhumor leuchten, der beständig das System hinterfragt, von dem er Hilfe erwartet. „Die Visite kommt, der Stationsärztin Eins macht mein haltbar fröhlicher Affekt Sorgen. Hypomanie ist das Wort. Sie würde mich gern länger hierbehalten, und das ist genau das, was ich mir auch wünsche. Ich nenne meine Gründe, Räumlichkeiten hier vs. Ein-Zimmer-Loch zuhause, fantastisches Essen, Ruhe, konzentriertes Arbeiten und ein Garten praktisch für mich allein; füge hinzu, dass es wie Urlaub für mich sei, ich es aus demselben Grund für Verschwendung von Steuergeldern hielte, und habe mit dieser Gesamteinschätzung ihre Diagnose der Hypomanie offenbar befestigen können.“

Entweder die Krankheit raubt einem Wachheit, Freude, Energie, dann ist man depressiv, also zusätzlich seelisch krank – oder man lässt sich nicht unterkriegen, schwingt aus, steigert sich, um die Restzeit zu nutzen, dann ist man auch krank, Hypomaniker also. Diese Wahrnehmung, die dem Patienten keine Chance auf Normalität lässt, entlarvt Herrndorf hier ohne Theoretisieren, ohne Zorn. „Arbeit und Struktur“ ist auch ein psychiatriekritischer Text, aber ohne die Selbstgewissheit dezidiert anklagender Werke der siebziger Jahre, die durchschienen ließen, man müsse nur die autoritären Strukturen zerschlagen, die Kliniken auflösen und die Gesund-krank-Unterscheidung aufgeben, dann werde alles besser. Herrndorfs Protokoll seiner letzten Jahre aber ist viel leiser, klüger und vielschichtiger als dies, auch wenn es mehr und mehr ein Porträt von Verzweiflung, Schwund und Qual wird. Herrndorfs Schutz und Waffe ist die Ausdrucksfähigkeit, die vom Tumor und den Medikamenten schließlich mit Macht angegriffen werden. Ende Juni schreibt er: „Kann mich mit C. kaum sinnvoll unterhalten. Sie versucht meine Sätze zu erraten und zu ergänzen. Bin traurig.“ Er wollte nicht als Mensch weggefressen werden, obwohl sein Körper noch eine Weile dageblieben wäre. Er hat sich für den Freitod entschieden. Das sollte nicht täuschen: Sein Blog erzählt die meiste Zeit über nicht vom Zwang des Sterbens, sondern von der Möglichkeit des Leben auch in extremer Bedrängnis.