Hugues Monice hat Mitte der 90er Jahre Haiti verlassen. Nun organisiert er von Tübingen aus Hilfe für eines der ärmsten Länder der westlichen Hemisphäre.

Region: Verena Mayer (ena)

Tübingen - Das Paradies gibt es in den Gedanken von Hugues Monice. Und auf den Bildern in seinem Wohnzimmer. Auf einem hellblauen Meer unter einem violetten Himmel schunkeln nussschalenförmige Boote. Frauen in bunten Gewändern balancieren reich gefüllte Körbe auf dem Kopf in ihre strohbedeckten Hütten, über denen sich knallgrüne Palmen wiegen. In seinen Gedanken hört Hugues Monices die Frauen lachen und die Sittiche im Regenwald singen. Er schmeckt die Mangos in den Körben und riecht den Fisch, der in den Netzen der Boote zappelt. Hugues Monice sitzt auf dem Sofa in seiner Wohnung in Tübingen, Tränen rutschen über seine Wangen. „Entschuldigung“, sagt er und versucht zu lachen. Trotzdem sieht er nicht halb so fröhlich aus wie die Frauen auf dem Gemälde an der Wand.

 

Hugues Monices verlorenes Paradies heißt Haiti. Das Land ist seine Heimat, auch wenn er seit mehr als 20 Jahren in Deutschland lebt und deutscher Staatsbürger ist. Der 55-Jährige hat in Haiti ehrenamtlich eine Schule errichtet und hauptamtlich eine Brücke gebaut. Er organisiert in seiner Freizeit eine kostenlose medizinische Versorgung und bringt in seiner Dienstzeit Bürgermeistern bei, wie eine anständige Verwaltung funktioniert. Doch Hugues Monice kennt viele Momente, in denen seine Zweifel größer sind als die Zuversicht und er sich fragt, ob er sein Ziel jemals erreichen kann. Man kann sagen: Hugues Monice ist ein Entwicklungshelfer, dessen eigene Entwicklung vielen Menschen geholfen hat. Man kann aber auch sagen, dass das Glück, das der Mann aus der Karibik anderen beschert, ihn selbst nicht unbedingt glücklicher macht.

Hugues Monice kommt am 15. November 1958 in Petit Goâve zur Welt, einer Stadt mit 157 000 Einwohnern, 70 Kilometer südwestlich von der Hauptstadt Port-au-Prince. Das Haus, in dem er mit seinen sechs Geschwistern und zwei Cousins aufwächst, besteht aus zwei Zimmern. Die Kinder gehen meistens barfuß, Schuhe sind für sie ein Luxusartikel. Das Geld, das der Vater als Arbeiter Woche für Woche nach Hause bringt, ist meist schon mittwochs weg. „Donnerstag und Freitag waren schlimm“, erinnert sich Hugues Monice, der seinen Magen an diesen Tagen mit Mangos aus dem Garten stopfte.

Die Tür zu einem besseren Leben

Seine Eltern können nicht lesen und nicht schreiben. Doch sie wissen, dass Bildung die Tür zu einem besseren Leben öffnet und legen Wert darauf, dass ihre Kinder in die Schule gehen. „Ich bin meinen Eltern sehr dankbar“, sagt Hugues Monice, der sich auf ungewöhnliche Weise erkenntlich zeigte: In seinem Elternhaus hat er vor zehn Jahren eine Schule für Kinder aus Petit Goâve eingerichtet, benannt nach seinem Vater Decilus Monice.

Das Schulprojekt beginnt als Notlösung. Bei einem Besuch in Petit Goâve sieht Hugues Monice ein Kind auf der Straße. Wie sich herausstellt, ist der Bub nicht in der Schule, weil sich seine Eltern den Unterricht nicht leisten können. Hugues Monice bittet eine Bekannte, den Kindern von der Straße ein Programm zu bieten. „Wie auch immer“, sagt er und stellt sein Elternhaus zur Verfügung. Die Nachfrage ist groß und wird größer – aus der Notlösung wird die erste Klasse. Eine Lehrerin bringt 21 Kindern im Alter zwischen sechs und zehn Jahren an fünf Vormittagen die Woche Lesen, Schreiben und Rechnen bei. Heute unterrichten sieben Lehrer 200 Schüler. Den größten Teil der Kosten für die École de Decilus Monice inklusive Büchern, Heften und Stiften bezahlt Hugues Monices Bruder Yvenet, der als Arzt in Florida gut verdient. Den Rest finanziert der Verein Marabou, den Hugues Monice in seiner neuen Heimat Tübingen gegründet hat.

Hugues Monice lernt Deutschland Anfang der 90er Jahre kennen. Die internationale Trinkwasserorganisation, für die er in Haiti als Buchhalter arbeitet, schickt ihn zu einer Weiterbildung nach Stuttgart. Er verliebt sich und verlässt seine Heimat. Der Auswanderer hat keine Angst vor der Zukunft in Deutschland. Hugues Monice ahnt nicht, dass er auch in seiner neuen Heimat ums Überleben kämpfen muss. „Das schaffst du nicht“, sagt seine Freundin, als die schwäbisch-karibische Liebesbeziehung am Ende ist.

Das ärmste Land der westlichen Hemisphäre

Doch der Student rackert unermüdlich, um sein Jurastudium zu finanzieren. Haiti, ist Hugues Monice überzeugt, braucht eine bessere Verwaltungsstruktur. Daran will er später arbeiten – und außerdem seine Landsleute juristisch beraten, wenn sie Hilfe brauchen im Kampf gegen behördliche Willkür. Er jobbt am Band, schuftet auf dem Bau und stellt tagein, tagaus Zeitungen zu. Winterschuhe hat er keine. Wenn es draußen friert, stakst der Austräger jede Viertelstunde in sein kleines Zimmer zurück, um sich die Füße an der Heizung aufzuwärmen. Und wenn um acht die Vorlesungen beginnen, hat Hugues Monice schon einen halben Arbeitstag hinter sich.

Das zweite Staatsexamen besteht er nicht. Er fühlt sich ungerecht benotet und erklagt sich die Zulassung zur mündlichen Prüfung. Doch es bleibt dabei: Der dunkelhäutige Mann mit dem französischen Akzent wird kein Volljurist. „Das tut bis heute weh.“ Vor allem deshalb, weil ihm die Professoren deutlich zu verstehen gegeben hätten: „Dein Platz ist nicht hier.“ Hugues Monice ändert seine Pläne: Er bleibt in Deutschland und findet seinen Platz in der Entwicklungshilfe.

Aus den Fotos in Hugues Monices Computer strahlt Freude. Die Kinder, die darauf zu sehen sind, sitzen dicht gedrängt in hölzernen Bänken, strecken ihre Hände in die Höhe und freuen sich, wenn die Lehrerin sie aufruft. Im Schulhof stehen Töpfe, aus denen Reis dampft, Erbsen und Hühnchenfleisch. Der Verein Marabou hat für die École de Decilus Monice auch eine Schulspeisung organisiert. Die Bilder im Computer zeigen Frauen, die sich unter ausgebleichten Sonnenschirmen in Schlangen einreihen, damit ein Arzt ihre schmerzenden Zähne in Augenschein nimmt. Männer in verschlissenen Polohemden warten geduldig auf eine Krankenschwester, die einen eitrigen Ausschlag am Arm verbindet. Kinder in zu großen Hosen lassen sich artig die Brust abhören und strahlen, wenn ihnen die Sozialarbeiterin roten Saft mit vielen Vitaminen reicht. Mehr als 1000 Menschen untersuchen die ehrenamtlichen Helfer jedes Jahr in Petit Goâve. Ihren dreitägigen Einsatz koordiniert Hugues Monice.

Eine Schule für Petit Goâve

Hugues Monice weiß, dass vom Hühncheneintopf in der Schule auch dann nichts übrig wäre, wenn die Portionen fünfmal so groß wären. Und dass die Menschen in Petit Goâve auch dann Schlange für eine medizinische Versorgung stehen würden, wenn die Helfer dreimal länger blieben. Schon vor dem verheerenden Erdbeben am 12. Januar 2010 hatten die Einwohner kaum Arbeit und wenig zu essen. Das Bildungssystem war schon vor der Katastrophe marode und das Gesundheitssystem miserabel. Danach wurde das Leben auf Haiti noch elender – und seither hat sich wenig verbessert. Haiti ist das ärmste Land der westlichen Hemisphäre.

Die École de Decilus Monice ist einzige in Petit Goâve, die schon wieder aufgebaut ist. In dem Viertel könnte es auch längst eine öffentliche Toilette geben. Hugues Monice hat Pläne anfertigen lassen und Fördergeld aufgetrieben. Doch die zuständige Dame in der Verwaltung wollte nur dann eine Genehmigung dafür ausstellen, wenn sie zehn Prozent der Bausumme bekomme, erzählt Hugues Monice, der sich auf dieses schmutzige Geschäft nicht einließ. (Die Bewohner der Gegend erledigen ihre Geschäfte deshalb weiterhin am Strand.) Es sind Momente wie dieser, in denen die Zweifel des Entwicklungshelfers größer sind als seine Zuversicht und er die Fotos im Computer braucht, um nicht ganz zu verzweifeln. Oder den Anblick der Brücke, die er als Angestellter einer Entwicklungshilfeorganisation am Rande von Port-au-Prince wiederaufbauen ließ und die ein riesiges Elendsviertel mit der Außenwelt verbindet. „Das sind Beweise dafür, dass meine Arbeit etwas bewirkt“, sagt der 55-Jährige und lächelt.

Hugues Monice hat seinen Koffer gepackt. Sein Urlaub ist vorüber – und damit sind die gemeinsamen Wochen mit seiner Partnerin und seinem Sohn in Tübingen vorbei. Am nächsten Tag fliegt er wieder nach Haiti, wo er die meiste Zeit des Jahres arbeitet. Im Auftrag einer Gesellschaft sucht Hugues Monice unter anderem für vier Kommunen nach Finanzierungsmöglichkeiten für eine gemeinsame Mülldeponie. Und er bereitet eine Verordnung vor, die Plastiktüten in Geschäften verbietet. Außerhalb der Dienstzeit kümmert er sich um die Marabou-Projekte in Petit Goâve: Der Ofen, mit dem die Eltern der Schüler Brot backen und zu Geld machen sollten, ist kaputt. Was nun? Und wer kümmert sich um die Hühner und Ziegen, die Hugues Monice anschaffen will? Damit die Menschen nicht stehlen, sondern sich selbst ernähren. Es sei unglaublich mühsam, die Leute zur Selbsthilfe zu bewegen. „Sie denken nicht an morgen. Das ist so traurig“, sagt der Helfer und wischt die Tränen weg.

Tränenreicher Abschied

Erst im Mai wird er wieder nach Hause kommen, zum siebten Geburtstag seines Sohnes. Dominik hat seinem Vater Bonbons und Spiele in den Koffer gepackt – für die Kinder in Petit Goâve. Hugues Monice weiß, dass der Abschied tränenreich wird, wie immer. Oft träumt er davon, bei seiner Familie bleiben zu können. Aber er träumt auch seinen karibischen Traum, in dem Haiti seinem Haiti auf den Gemälden an der Wohnzimmerwand ähnelt. Also hofft Hugues Monice weiter, dass er die Hoffnung nicht verliert.