Hans Schubert wollte direkt neben den RAF-Terroristen Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe beerdigt werden. Nun ist sein Grab verschwunden, aber es gibt noch ein paar Menschen, die sich an den Stuttgarter Fotografen erinnern.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Stuttgart -

 

Am 18. Oktober 1977 um kurz vor neun lässt der baden-württembergische Justizminister Traugott Bender über den Südwestfunk verlautbaren, dass Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim Selbstmord verübt hätten. Neun Tage später werden die sterblichen Überreste der drei RAF-Terroristen auf dem Dornhaldenfriedhof beigesetzt, Abteilung 99, hinterste Reihe. Lange bleibt das Grab ein Solitär auf einer fußballfeldgroßen Rasenfläche. Aus der Ferne ist es an einem Ahornbäumchen zu erkennen, dessen Blätter im Frühsommer rot leuchten.

Erst nach fast fünf Jahren bekommen die Terroristen einen Nachbarn: Hans Schubert wird am 3. Mai 1982 einen Meter links von ihnen begraben. Der Fotograf ist mit 69 Jahren an Lungenkrebs gestorben, vermutlich eine Folge von rund einer Million filterlosen Zigaretten, die er im Laufe seines Lebens geraucht hat. Sein letzter Wille besagt, dass er im Sarg einen Nicki-Pullover und Cordhosen tragen will. Schubert hat nur seine Lebensgefährtin zu seiner eigenen Trauerfeier eingeladen, doch Anna Landmann will nicht einsam am Grab stehen. Sie nimmt ihre Schwester und drei enge Freunde als Stützen mit.

Anna Landmann ist 20, als sie sich in Hans Schubert verliebt, und 38, als sie sich von ihm für immer verabschieden muss. An diesem Verlust, sagt sie heute, sei sie fast zerbrochen. „Ich habe Stuttgart auch deshalb verlassen, weil ich nicht mehr an die Orte kommen wollte, die mich an ihn erinnern.“ Seit drei Jahrzehnten lebt Anna Landmann in Chile, allein in einem Häuschen am Pazifik. Bald feiert sie ihren 74. Geburtstag. Den Reporter, der aus dem fernen Stuttgart anruft, duzt sie, das Wörtchen Sie habe sie längst aus ihrem Sprachschatz gestrichen, sagt sie. Nun denn, Anna, erzähl bitte: Was war das für ein Mann, der neben Terroristen beerdigt werden wollte?

Er verehrt Marx und Engels

Hans Schubert wird am 20. Juli 1913 in Dresden als Sohn eines Beamten geboren. Nach dem Abitur beginnt er ein Innenarchitekturstudium, er will Bühnenbildner werden. Schubert verehrt Marx und Engels, er tritt in die KPD ein und demonstriert für eine neue Gesellschaftsordnung, in der die Arbeiterschaft das Sagen hat. Doch statt des Proletariats kommt Hitler an die Macht. 1940 wird der Kommunist Schubert von der Gestapo verhaftet. Kurz bevor alliierte Kampfbomber seine Heimatstadt zerstören, wird er aus dem Gefängnis entlassen.

Im Mai 45 wähnt sich Hans Schubert endgültig in Freiheit – und muss bald darauf erkennen, dass statt einer gerechteren Weltordnung nur ein neuer Unrechtsstaat entsteht. Noch vor Gründung der DDR setzt er sich in den Westen ab. Schubert landet im Stuttgarter Osten, in der Villa Oppenheimer am Bubenbad, einem Sammelbecken für Kulturschaffende. Anfangs hält er sich damit über Wasser, dass er Bilder aus Pornoheften vergrößert und heimlich für ein paar Mark an den Mann bringt. Im Stockwerk über ihm erschafft derweil Willi Baumeister bahnbrechende Kunstwerke. Zufälligerweise sucht er, einer der größten Maler der Moderne, jemanden, der seine Bilder reproduziert. Schubert und Baumeister verstehen sich sofort, sie verbindet eine tiefe Liebe zu Katzen, Frankreich und der Kunst.

Bis heute wohnt Felicitas Baumeister, 84, in ihrem Elternhaus, seit mehr als sechs Jahrzehnten verwaltet sie das umfangreiche Werk ihres Vaters. Alles, was die Nachwelt darüber wissen sollte, hat sie recherchiert und archiviert, so auch die Rechnungen, die Hans Schubert an „Prof. Baumeister, Gänsheidestraße 26, Stuttgart-Ost“ gestellt hat: mal 160 Mark für die Reproduktion von zehn Ölgemälden, mal 330 Euro für die komplette Bebilderung eines Ausstellungskatalogs. „Mein Vater fühlte sich Herrn Schubert verbunden“, sagt Felicitas Baumeister. „Beide hatten unter den Nazis gelitten: der eine als Künstler, der andere als Kommunist.“

Der Fotograf und der Maler: Schuberts Arbeit mit Willi Baumeister

Wie intim die Geschäftsbeziehung zwischen dem Maler und dem Fotografen war, zeigt eine Serie von Aktaufnahmen, die auf der Terrasse der Villa Oppenheimer entstanden ist. Baumeister gilt als deren Schöpfer, bei der Umsetzung war ihm freilich Hans Schubert behilflich. Auch eine große New Yorker Baumeister-Schau ist mit seiner Unterstützung vorbereitet worden. Die Exponate wurden in Schuberts Atelier zusammengestellt, probeweise aufgehängt und die Szenerie von ihm mit der Kamera eingefangen. Auf dem Foto sieht man Willi Baumeister, die Hände in den Hosentaschen vergraben, neben seinen Töchtern Felicitas und Krista vor einer mit abstrakten Bildern tapezierten Wand. Niemand konnte in diesem Moment ahnen, dass der Künstler die Ausstellungseröffnung in New York nicht mehr miterleben würde: Am 31. August 1955 starb Willi Baumeister an einem Herzinfarkt.

Noch viele Jahre blieb Hans Schubert der Familie freundschaftlich verbunden, obwohl, wie Felicitas Baumeister erzählt, „er alles Bürgerliche ablehnte“. Als sie in den sechziger Jahren das Elternhaus renovieren ließ, inklusive Türen aus deutscher Eiche und Glas, habe Schubert das Resultat „furchtbar spießig“ gefunden.

Ihm gefällt die Ästhetik des Morschen, Zerfallenen, Verwilderten. In der Villa Oppenheimer, im Krieg von Bombentreffern schwer beschädigt, fühlt sich Hans Schubert wohl. 1972 muss er das Haus verlassen, welches längst einer Ruine gleicht, weil es für den Neubau des Holtzbrinck-Verlags abgerissen wird. Als Erinnerung nimmt Schubert eine Treppenstufe mit. Wenn seine Zeit gekommen ist, soll sie sein Grabstein werden.

Schubert mietet sich im Atelierhaus des Württembergischen Kunstvereins ein. Die neuen Wohn- und Arbeitsräume teilt er sich mit seiner jungen Lebensgefährtin Anna Landmann und seinem braunen Kater Bruno. Über dem Sofa hängen drei Bilder, die ihm sein Freund Willi Baumeister geschenkt hat, auf seinem Schreibtisch liegt ein Sowjetstern als Briefbeschwerer, im Regal stehen Bücher von Louis Aragon, Jean-Paul Sartre und Walter Benjamin. Stundenlang hört Schubert den Jazz der Legenden Louis Armstrong, Duke Ellington und Dizzy Gillespie oder erläutert Besuchern sein gesellschaftspolitisches Manifest. „Hans träumte von einer Welt, in der jeder jedem hilft“, sagt Anna Landmann. „Frag mal den Uwe.“

Das Trauma der Nazizeit

Uwe Seyl hat die Wände seiner Altbauwohnung in der Heidehofstraße mit eigenen Arbeiten geschmückt: großformatige Fotografien, die auf den ersten Blick wie Gemälde wirken. Seyl ist 78, früher hat er oft Kunst dokumentiert, zu seinen Auftraggebern zählten der Maler Anselm Kiefer, der Verlag Hatje Cantz oder die Galerie Villa Merkel. Er bewegte sich auf einem ähnlichen Terrain wie sein Mentor Schubert.

1971, als sich die beiden Männer kennenlernen, ist der eine ein 31-jähriger Niemand, der bei Photo Planet am Hauptbahnhof Passbilder schießt, und der andere ein bekannter Kunst- und Werbefotograf, der auf die 60 zugeht. Schuberts Atelier steht jedem offen, der wie er das Kulturleben liebt und den Kapitalismus verabscheut. „Ich bin Kommunist“, sagt er zu Seyl. „Was ich besitze, kannst du gerne benutzen.“ Uwe Seyl leiht sich die Hasselblad, die Objektive, die Stative, die Scheinwerfer, all das teure Zeug, das er sich nicht leisten kann, aber benötigt, um sich als freier Fotograf einen Namen zu machen.

Bald reichen seine Einkünfte für einen gebrauchten Volvo und einen Tagesausflug ins Züricher Kunsthaus, zu dem er seinen Förderer Hans Schubert einlädt. Stundenlang stehen die beiden Männer wie Pilger vor den Werken ihrer Götter Kandinsky, Chagall und Klee. Auf dem Rückweg, vielleicht noch betäubt von den Eindrücken, erzählt Schubert, wie ihm die Gestapo nach seiner Verhaftung einen Hoden zertrümmerte. „Hans hat im Dritten Reich unglaubliches Leid erfahren“, sagt Seyl. „Dieses Trauma hat ihn niemals losgelassen.“

Ein paar Hundert Meter weiter, in der Libanonstraße, werkelt Reinhard Truckenmüller in seinem Atelier. Bis heute reproduziert der Fotograf Willi-Baumeister-Bilder. Er benutzt die Laborbecken, die einst sein väterlicher Freund Hans Schubert benutzte. Truckenmüller, 74, ist ein Altlinker. Schon als Primaner am Dillmann-Gymnasium verteilte er selbst gedruckte Zeitschriften, in denen er Politiker, Journalisten und Unternehmer als Nazis beschimpfte. Die Rebellion gegen das Establishment hatte mit der Pubertät zu tun, vor allem aber mit seiner Herkunft: Sein Vater hatte es im Dritten Reich zum stellvertretenden württembergischen Gauleiter der Gruppe Buchhandel gebracht. Im Georg Truckenmüller Verlag erschienen Werke wie „Dem Führer. Gedichte für Adolf Hitler“. „Ich hatte immer das Gefühl, dass ich etwas wiedergutmachen muss“, sagt Reinhard Truckenmüller.

Schubert, die Leitfigur

Ende der sechziger Jahre wird Schubert, das Naziopfer, zu seiner Leitfigur. Der junge Truckenmüller folgt ihm in die DKP. Er bewundert den schmächtigen Mann mit der dicken Hornbrille, der mal eben nach Paris reist, um sich mit Man Ray zu treffen, einem der größten Fotokünstler des 20. Jahrhunderts. Und der sich daheim in Stuttgart im Kreis von Intellektuellen wie dem Philosophen Max Bense, dem Filmemacher Ottomar Domnick oder dem Kunstprofessor Klaus Lehmann bewegt.

Manchmal irritiert Hans Schubert seine Freunde mit radikalen Sprüchen, etwa wenn er den Stuttgarter Schriftsteller und Andreas-Baader-Kumpel Peter O. Chotjewitz zitiert: „Alle Staaten sind verbrecherische Organisationen. Es gehört zu ihrem Wesen. Das ist der Grund, warum ich mich niemals von Menschen distanzieren würde, die den Mut und die Kraft haben, den Staat zu bekämpfen.“ Freilich beschränkt sich Schuberts politisches Engagement darauf, dass er unter Menschen agitiert, die ihn gut kennen und wissen, dass seinen Worten keine entsprestzchenden Taten folgen. „Hans war zwar verbal ein Anarchist“, sagt Georg Truckenmüller. „Praktisch hat er sich mit den Verhältnissen arrangiert.“

In den 70er Jahren verdient der Fotograf Schubert gutes Geld mit Werbekampagnen für den Computerriesen IBM, den Elektronikkonzern ITT und die konservativen „Stuttgarter Nachrichten“. War er womöglich ein Opportunist? „Gewiss nicht“, antwortet Truckenmüller. „Es gehört zur Dialektik des Kommunismus, dass man die Erwerbsarbeit und die politische Arbeit voneinander trennen kann.“

„Legt mich zu den RAF-Leuten“

Als Andreas Baader und Gudrun Ensslin am 2. April 1968 in Frankfurt zwei Kaufhäuser anzünden, glaubt Hans Schubert noch, dass etwas Gewalt nicht schaden kann, wenn der Kapitalismus besiegt werden soll. Nachdem der Generalbundesanwalt Siegfried Buback, seine Begleiter und der Bankmanager Jürgen Ponto ermordet worden sind, schwinden seine Sympathien für die RAF. „Uns war klar, dass das sinnlose Taten sind“, sagt Reinhard Truckenmüller.

Am Vormittag des 27. Oktober 1977, während Baader, Ensslin und Raspe zu Grabe getragen werden, sitzt Schubert daheim in seinem Le-Corbusier-Sessel, hört eine Schallplatte von Django Reinhardt und streichelt Kater Bruno. Nichts verbindet ihn, den 64-jährigen Idealisten mit den jungen Möchtegern-Anarchisten, die sich Palästinensertücher über die Nase gezogen haben, zum Dornhaldenfriedhof marschiert sind und nun skandieren: „Noch ist nicht genügend Blut geflossen!“

Vermutlich frisst sich zu diesem Zeitpunkt bereits der Krebs in Schuberts Raucherlunge. Als er im Herbst 1981 von der weit fortgeschrittenen Krankheit erfährt, bleibt ihm nicht mehr viel Zeit. „Ich will an einem Ort begraben werden, an dem es keine Nazis gibt“, sagt er zu Anna Landmann. „Leg mich zu den RAF-Leuten. Da bin ich sicher, und sie sind nicht mehr so allein.“

Schubert hinterlässt Anna Landmann ein Willi-Baumeister-Gemälde, „Relief mit grüner Figur“ von 1953. Sie verkauft es und wandert aus. Im vergangenen Jahr erreicht sie in Chile ein Schreiben vom Stuttgarter Friedhofsamt: Sie solle sich um die Grabpflege kümmern, andernfalls drohe ein Bußgeld. Beigelegt ist ein Beweisfoto, darauf ist die Treppenstufe aus der abgerissenen Villa Oppenheimer zu erkennen mit der Aufschrift „Hans Schubert 1913 – 1982“. Der Stein ist halb im Erdboden versunken und von Unkraut überwuchert. „Hans hätte dieser Anblick gefallen“, sagt Anna Landmann. Dennoch ließ sie das Grab entfernen. Nun ist der Platz neben den RAF-Terroristen frei für eine neue Geschichte über das Leben, die Liebe und den Tod.