Die sozialen Gräben in der Gesellschaft werden tiefer. Die Zukunftsängste vieler Menschen verstärken Staatsverdrossenheit und Nationalismus. Da kommt es auch auf einen handlungsfähigen Gewerkschaftsbund an, meint Matthias Schiermeyer.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Berlin - Mit unverminderter Kraft dampft das Kreuzfahrtschiff Deutschland über die See. Die Wirtschaft floriert, der Staat erzielt Haushaltsüberschüsse in Rekordhöhe, am Arbeitsmarkt ist Vollbeschäftigung in Sicht – Sturmfronten wie der Brexit, die Handelskrise zwischen Europa und den USA oder der Iran-Konflikt bleiben noch in der Ferne. Oben, auf den Sonnendecks, lässt es sich prima aushalten. Dort lassen es sich die Wohlstandsgewinner gut gehen. Doch ein Teil der Passagiere findet dort keinen Platz – die Habenichtse müssen unten bleiben, in Kabinen mit bescheidener Aussicht.

 

Noch nie waren die Chancen auf einen Arbeitsplatz so groß, die Industriegehälter so hoch und die Gefahren, ins Bodenlose zu stürzen, so gering – dennoch sorgen sich Millionen Menschen um ihre Zukunft, wie zum Auftakt des Bundeskongresses des Deutschen Gewerkschaftsbunds eindringlich betont wurde. Wie passt das zusammen? Alles Schwarzmalerei? Fortschrittsverweigerung? Mitnichten.

Auch die Kanzlerin erkennt die Spaltung

Ein wesentlicher Grund ist die wachsende Ungleichheit der Gesellschaft. Dank des Börsen- und Immobilienbooms vermehrt sich der Reichtum vieler von selbst. Immer mehr Nachfahren müssen für ihr Glück praktisch keinen Handschlag tun. Nach Schätzungen des Forschungsinstituts DIW haben Schenkungen und Erbschaften einen jährlichen Wert von bis zu 400 Milliarden Euro erreicht. Die Vermögenskonzentration ist höher als in fast allen anderen Ländern. Derweil wird Erwerbsarbeit so hoch besteuert wie keine andere Einkommensart. Laut der OECD liegt die Abgabenbelastung des Arbeitseinkommens, gerade bei kinderlosen Alleinstehenden, in keinem anderen Industrieland außer Belgien so hoch wie in Deutschland.

Einer aktuellen Umfrage von Infratest dimap zufolge sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich für 83 Prozent der Bürger ein großes oder sehr großes Problem. Auch Kanzlerin Angela Merkel hat erkannt, dass die vielfältige Spaltung des Landes so deutlich ist wie nie in ihrer zwölfjährigen Amtszeit. Allein wird sie es wohl nicht schaffen, die Gräben zu überwinden. Dazu braucht sie die Sozialpartner: vernünftige Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, weil Tarifbindung den sozialen Zusammenhalt generell stärkt.

Die Digitalisierung könnte den Negativtrend noch verschärfen, wie auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim DGB-Kongress in seltener Klarheit gewarnt hat. Die Angst vor dem technologischen Wandel und der Globalisierung verstärkt Staatsverdrossenheit, Populismus und Nationalismus. Es ist keine Überdramatisierung, wenn sowohl das Staatsoberhaupt als auch der Gewerkschaftsbund an einen unrühmlichen Teil der deutschen Geschichte erinnern: Gelingt es nicht, faire Bedingungen für alle herzustellen, „fliegt uns der Laden irgendwann um die Ohren“, formuliert es DGB-Chef Reiner Hoffmann.

Aus der deutschen Geschichte lernen

Als die Gewerkschaften schwach waren und nur auf ihre Kernklientel geachtet haben, konnte sich der Niedriglohnsektor etablieren, und die Mitbestimmung hat gelitten. Heute erfreuen sie ihre Mitglieder mit relativ hohen Lohnabschlüssen, ohne die Wohlstandverlierer aus dem Blick zu verlieren. Die Gewerkschaften gehören zu den Profiteuren der Regierungsbildung, denn die große Koalition sichert ihnen eine Einflussnahme wie wohl selten zuvor.

Doch jetzt laufen sie der Entwicklung hinterher: Gemeinsam mit Union und SPD müssen sie Tarifflucht bekämpfen und grenzübergreifendes Lohndumping eindämmen, prekäre Arbeitsverhältnisse zurückdrängen und die Zahl der Langzeitarbeitslosen reduzieren, Leitplanken für die digitale Arbeitswelt einziehen und Steuergerechtigkeit erwirken. Es bedarf einer Vielzahl von Maßnahmen, damit alle Passagiere des Kreuzfahrtschiffs Deutschland eine gute und sichere Fahrt haben.