Das ist der Mann mit den zwei Gesichtern: ein jugendliches, etwas rundliches, oft strahlendes. Und ein eher hageres, bärtiges, vom Leben gebeuteltes, aber nicht gebrochenes. Leon Fleisher, der heute, am 23. Juli, 85 Jahre alt wird, gehört zu den ganz großen Pianistenpersönlichkeiten unserer Zeit.

Lokales: Hans Jörg Wangner (hwe)

Stuttgart - Er war ein optimistischer Senkrechtstarter, dieser Artur-Schnabel-Schüler, der Johannes Brahms’ Händel-Variationen so kraftvoll, federnd und transparent draufhatte wie sonst keiner. Der mit George Szell am Pult die beiden Konzerte vom selben Komponisten ebenso analytisch wie in den langsamen Sätzen anrührend einspielte. Der mit den pochenden Achtel-Repetitionen von Liszts h-Moll-Sonate die Luft zum Brennen brachte.

 

Mit der Bach-Chaconne Maßstäbe gesetzt

Leon Fleisher ist, um ein Wort von Erich Kästner zu variieren, der sachliche Romantiker, ja Hochromantiker schlechthin. Aber er ist auch der Mann, dem eine Lähmung der rechten Hand in den 1960er Jahren in die glanzvolle Parade fuhr. Fleisher verlegte sich aufs Dirigieren und auf die Literatur für die linke Hand. Und wieder setzte er mit einem Brahms-Werk Maßstäbe: die Bearbeitung der Bach-Chaconne für die linke Hand wird in ihrer zurückgenommenen Klarheit, ihrem herben, gelassenen Ernst, ihrer immer wieder verblüffenden polyfonen Artikulation unerreicht bleiben.

Auch sonst hat Leon Fleisher als Linkshänder faszinierende Aufnahmen vorgelegt: das Ravel-Konzert, Leopold Godowskys virtuos-vertrakte Sinfonische Metamorphosen über den Schatz-Walzer von Johann Strauß und nicht zuletzt Erich Wolfgang Korngolds Suite für Klavierquartett, in dessen Zentrum ein ätherischer langsamer Satz mit dem Titel „Lied“ steht.

Botox ermöglicht beidhändiges Spielen

Gewiss: die 23 CDs umfassende Box von Bach über Beethoven und Brahms bis Hindemith und dem fast neunzigjährigen Ned Rorem, die zum Geburtstag auf den Markt gekommen ist, umfasst auch einige wenige nicht so gelungene Einspielungen. So sind Brahms’ „Liebeslieder-Walzer“, die er mit Rudolf Serkin als Partner begleitete, was die Sänger betrifft, doch arg in die Jahre gekommen. Und Franz Schuberts große B-Dur-Sonate, die er in jugendlichem Überschwang nimmt, lässt ebenso Fragen offen wie seine „Suite Bergamasque“ von Claude Debussy. Aber die Schubert-Interpretation hat der Pianist in seiner späten, sozusagen dritten Debüt-CD „Two Hands“ (erschienen bei Vanguard Classics) zurückgenommen und bis in die tiefsten Tiefen ausgelotet. Denn eine Botox-Behandlung ermöglicht Fleisher seit einigen Jahren wieder das Konzertieren mit beiden Händen.

Dass ein Ergebnis dieses medizinischen und musikalischen Triumphs auch drei hinreißend abgeklärte Mozart-Konzerte sind, die vom 16. bis 19. Juli 2008 im „Stuttgart Conservatory“ mit dem Stuttgarter Kammerorchester unter seiner Leitung eingespielt wurden – darauf kann man in der Stadt schon ein bisschen stolz sein.