Am Sonntag hätte der Riesenslalom um den Reußensteinpokal stattfinden sollen. Mangels Schnee wurde er abgesagt – zum 30. Mal in seiner 61-jährigen Geschichte.

Region: Verena Mayer (ena)

Neidlingen - Einerseits ist es schon betrüblich, dass das am Sonntag nichts wird. Der Termin lag so geschickt: Vor dem Frauen-Weltcup in Ofterschwang, wo die Neidlinger Spezialisten für Pistenpräparierung im Arbeitseinsatz sind. Vor der Abteilungsausfahrt in die Dolomiten. Und vor dem Nachwuchsrennen am Hochlitten, wo die Hilfe von der Alb auch nicht fehlen darf. Aber klar, wenn’s nicht geht, dann geht’s halt nicht. Andererseits: so früh haben die Amateure des TV Neidlingen schon lange keine Gewissheit mehr gehabt. Schon seit Wochen war klar, dass es am 10. Januar 2016 keinen Schnee auf der Schwäbischen Alb geben wird. Und ohne Schnee gibt es nun mal keinen Riesenslalom. Und ohne Riesenslalom keinen Riesenstress.

 

Der Riesenslalom um den Reußensteinpokal, kann man sagen, ist etwas sehr Besonderes. Halt, nein: man muss sagen, er ist etwas sehr Besonderes geworden. 1955 wurde der Wettbewerb zum ersten Mal ausgetragen, damals noch als Abfahrtslauf. Seither hat er 32 Mal stattfinden können, 30 Mal musste er mangels Schnee ausfallen. Doch immerhin: anders als den Riesentorlauf in Gruibingen, den Bläsibergabfahrtslauf in Wiesensteig oder den Teckabfahrtslauf in Kirchheim gibt es das Rennen um den Reußensteinpokal in Neidlingen noch. Aber, und das ist jetzt wieder so eine Andererseits-Sache: Man kann sich schon fragen, wie lange noch?

Der große Steilhang, auf dem die Fahrer am Sonntag die ersten Tore umwedeln sollten, ist bedeckt mit verwesendem Buchenlaub. Der anschließende Ziehweg ist ein hübscher Spazierweg, steingrau statt schneeweiß – leider. Den kleinen Steilhang, dessen Einfahrt man richtig gut erwischen muss, damit es einen nicht aus der heiklen 90-Grad-Kurve schmeißt und auf den folgenden Bodenwellen vollends verzwirbelt, überzieht eine braungrüne Grasfläche. Und dort, wo jetzt eigentlich schon der Zieleinlauf gesteckt wäre, finden sich nur ein paar Maulwurfshügel. Kein Hauch von „Hölle“, wie das letzte Stück der Piste heißt. Es sei denn, die Wildschweine, die seit Neuestem im Gelände unterwegs sind, fangen an, auch noch diesen Abschnitt umzupflügen.

Die Streif von der Alb

820 Meter ist die Strecke lang, die unter Kennern anerkennend „die Streif von der Alb“ genannt wird. Der Start liegt auf 630 Metern über Normalnull, das Ziel 180 Meter tiefer. Gut 45 Minuten dauert der Aufstieg in schweren Stiefeln, gut 40 Sekunden die Abfahrt auf schnellen Skiern. An die 200 Skiläufer rasen in einem halbwegs gescheiten Winter den Berg hinab. Harald Schönhaar, der später Ski-Bundestrainer wurde, war schon dabei. Karl Wilhelm Beck, der als „weißer Blitz“ Skigeschichte schrieb. Oder Rainer Mutschler, der die deutschen Skidamen trainierte.

Neben den Bäumen und in den Wiesen stehen jedes Mal 2000 Zuschauer oder mehr. „Die Stimmung ist besser als bei manchem Weltcup“, schwärmt Daniela Ambacher, 41, die früher mit Hilde Gerg und Katja Seizinger in der Nationalmannschaft Ski gefahren ist und das Rennen daheim sechsmal gewonnen hat. „Der Pokal ist ein Aushängeschild für Neidlingen“, sagt ihr Vater Kurt Ambacher.

Ambacher senior ist von gedrungener Statur, hat ein frischluftgerötetes Gesicht, einen knitzen Blick und ein fast immerwährendes Lächeln auf den Lippen. Er ist 61 Jahre alt und leitet seit 25 Jahren die Skiabteilung des TVN. Ambacher hat von klein auf jedes Reußensteinrennen miterlebt und als Chef zwölf Rennen verantwortet sowie 13 für nicht machbar erklärt. Frage also an den Experten: Ist man mit so viel Erfahrung noch aufgeregt? Kurt Ambacher lacht laut auf. Was für eine Frage! „Schlaflose Nächte sind das“, sagt er. „Schlaflose Nächte jedes Jahr!“ Weil man ja jedes Jahr aufs Neue nichts weiß. Und zwar: rein gar nichts!

Wann kommt der Schnee?

Wird es Schnee geben? Und wenn ja: wann? Kommt ein knackiger Frost dazu, der den Schnee festhält? Oder zieht ein Föhn übers Land, der die weiße Pracht auffrisst? So wie 1985, als über Nacht alles schmolz und die Veranstaltung am Renntag abgesagt werden musste. Und wie beinahe im Jahr 2000, als am wichtigsten Morgen jenes Winters von 40 Zentimetern Schnee nur noch ein minimaler Rest übrig war. Also immer Wetterkarten studieren, Satellitenbilder beobachten, analysieren, hoffen, unruhig schlafen – und dann entscheiden. Und wenn die Entscheidung positiv ausfällt, dann gibt es noch weniger Schlaf. Dann geht die Arbeit ja erst richtig los.

Alles klar? Alles klar! Wobei, eine Frage noch: Warum der ganze Aufwand überhaupt? Kurze Stille, dann ein Seufzen. „Aus Idealismus“, sagt Kurt Ambacher. „Aus purem Idealismus!“

Die Wintersportabteilung des TV Neidlingen besteht aus 216 Mitgliedern. Weniger als ein Viertel zählt zur Kinderriege. Wenn sich dieser Winter anständig verhalten würde, würden wahrscheinlich ein paar Bambini dazukommen. Aber so konnte bis jetzt kein Skikurs stattfinden. Wie auch das mittwöchliche Training in Schopfloch durchgehend ausfallen musste. In dem Skigebiet auf 800 Metern fliegen zurzeit allenfalls Pollen, aber keine Flocken. Früher konnten die Neidlinger Skihäschen am Wochenende wenigstens noch ins Allgäu fahren, wenn die raue Alb nicht rau genug war. Aber heuer kann man ja nicht mal mehr dort anständige Pistenverhältnisse erwarten. Und noch weiter weg, auf einen Gletscher – das wird dann richtig teuer.

Die Nachwuchssorgen wachsen

Seit der Reußensteincup das erste Mal ausgelobt wurde, gab es kein Jahrzehnt, in dem er nicht abgesagt werden musste. Gleich im zweiten Jahr, 1956, war das erstmals der Fall. Regelmäßig fiel er zweimal hintereinander aus, Ende der 80er Jahre sogar dreimal in Folge. Der Präsident des Schwäbischen Skiverbands, Heiner Dangel, sagt, die 109-jährige Geschichte seines Verbandes sei auch eine 109-jährige Suche nach Schnee, die aktuelle Schneearmut mitnichten ein modernes Phänomen. Trotzdem muss der Präsident auch konstatieren: „Wenn auf der Schwäbischen Alb der Schnee fehlt, dann merken wir das.“

Wer nicht in früher Kindheit mit dem Skifahren anfangen kann, fängt vielleicht gar nicht damit an. Die Konkurrenz im Freizeitsektor ist groß, die Zahl der Mitglieder in den Vereinen rückläufig. Exakt 99 077 sind zurzeit beim Schwäbischen Skiverband gemeldet. Vor zehn Jahren waren es acht Prozent mehr, und Heiner Dangel rechnet mit einem Schwund von weiteren 15 Prozent bis 2030. Abgesehen davon, dass der Präsident, wie er sagt, „selbstverständlich Frau Holle ins Nachtgebet einschließt“, versucht sein Verband auch ganz profan, dieser negativen Entwicklung entgegenzuwirken. Bei der Ausbildung der Übungsleiter und Skilehrer wird mehr auf pädagogische und soziale Aspekte geachtet als auf die Technik für den perfekten Schwung. Auch neue Disziplinen wie Parallelslalom oder Skicross sollen den Nachwuchs anlocken – und bei der Stange halten. Wohin es führt, wenn das nicht gelingt, kann man sich leicht ausmalen. Ist ja schon jetzt nicht so, dass der Kader der deutschen Ski-Alpinisten überbelegt ist.

Wenn in Neidlingen Pokal ist, ist fast jeder der 1800 Einwohner auf den Beinen. Bei so einer Veranstaltung in so einem Ort gibt es fast niemanden, der nichts damit zu tun hat. Der Bäcker, der Unmengen an Brötchen zusätzlich backen muss. Der Metzger, der rechtzeitig genügend Rote verwursten sollte. Der Getränkehändler darf auf keinen Fall zu wenig Glühwein vorrätig haben. Den Zuschauern beim Reußensteinpokal wird nicht nur etwas fürs Auge geboten – sogar eine Schneebar gehört zum Inventar. Das Rote Kreuz und die Kollegen von der Bergwacht müssen Trage bei Fuß stehen. Was der TVN an Torstangen nicht selbst besitzt, muss er bei benachbarten Vereinen ausleihen. Ebenso verhält es sich mit den Fangzäunen, die in manchen Pistenbereichen sogar in dreifacher Aufstellung nötig sind. Und die Piste, die muss natürlich auch präpariert werden.

Noch gibt es einen Funken Hoffnung

Im Internet gibt es kurzweilige Filmchen, die die Neidlinger Pistenpräparationstechnik sehr anschaulich dokumentieren. Sie zeigen viele bunte Figuren, die systematisch in kräftigen kleinen Schritten ihren Hang hinaufstapfen. Treppeln nennen die Neidlinger dieses rhythmische Stapfen. Die warm eingepackten Helfer treppeln mit ihren Skiern den Schnee fest, der in mageren Jahren sogar von unbefahrenen Hängen und aufgeschippten Haufen am Straßenrand herbeigekarrt wird.

Und dann kommt die Feuerwehr, die bei einem Großereignis wie diesem schon gar nicht fehlen darf. Aus ihrem guten Tanklöschfahrzeug sprühen die Experten feinstmöglich Wasser auf die Piste, das ebenfalls eingetreppelt wird. Dann eine neue Lage Schnee, wieder treppeln. Einmal den Hang rauf und einmal runter. Bis die Piste plan und stabil ist. Das braucht zwei Tage und 20 000 Liter Wasser.

Mit einer Schneekanone und einem kleinen Pistenbully wäre die Arbeit natürlich viel einfacher. Aber halt auch viel teurer. Und lange nicht so gesellig. Es spricht ja wohl Bände, dass die Pokalmatadoren am Ende ihrer harten Vorbereitungstage lieber gemütlich beinandersitzen und überlegen, wie sie ihren Riesenslalom noch besser machen könnten, statt todmüde ins Bett zu fallen. Beim letzten Brainstorming ist ein ziemlich professionelles Sponsorenkonzept entstanden. Und die Idee, eine zusätzliche Tafel aufzubauen, auf der die Zwischenzeit der Läufer angezeigt werden kann. Dann wären die Durchgänge noch spannender und die Durchsagen, für die selbstverständlich im gesamten Gelände Lautsprecher angebracht sind, noch unterhaltsamer. Seit es den Neidlingern gelungen ist, den ehemaligen Abfahrtsweltmeister Hansjörg Tauscher als Moderator zu verpflichten, hat die Amateurveranstaltung ohnehin Profiniveau erreicht.

Um Fasching herum könnte es klappen

„Das alles ist ein Riesenaufwand“, sagt der Cheforganisator Kurt Ambacher. „Aber solche Aktionen stärken den Zusammenhalt.“ Bei der Vorbereitung des Rennens im vergangenen Jahr hat ein Reporter vom Radio einen treppelnden Schüler gefragt, ob er denn keine Hausaufgaben zu erledigen habe. Die Antwort des Jungen: „Hausaufgaben sind immer, Reußensteinpokal nicht.“

Das hat doch auch schon wieder was: Dass ein Skirennen, das regelmäßig ausfällt, eine Attraktion für den Nachwuchs ist.

Hätte sich der Winter nach dem Terminplan des TVN verhalten, hätte Kurt Ambacher – und nicht nur er – jetzt Urlaub. Aber so geht er beflissen seiner Arbeit als Elektromechaniker nach und hat noch Zeit, seine Obstbäume zu schneiden. Einen Tag, an dem er nicht alle auffindbaren Wetterprognosen für die kommenden Wochen studiert, gibt es nicht. Kurt Ambacher ist guter Dinge, dass es in diesem Jahr noch was wird mit dem Riesenslalom. Die modernen Meteorologen sowie die Darstellungen im Hundertjährigen Kalender stimmen ihn zuversichtlich. „Im Februar um Fasching rum könnte es passen.“

Wenn er recht hat, müsste der Reußensteinpokal in diesem Jahr nicht zum 30. Mal abgesagt werden. Aber wahrscheinlich zählt man als Neidlinger nicht so. Für einen Neidlinger ist jedes Jahr Pokal, und jedes Mal ist er eine Zitterpartie.