Romanze über einem Abgrund der Schuld: An der Esslinger Landesbühne ist die Bühnenfassung von Bernhard Schlinks Erfolgsroman „Der Vorleser“ uraufgeführt worden.

Esslingen - Schön, dieses vibrierende Summen, mit dem das Ensemble Requiemstimmung verbreitet. Immer wieder formiert man sich zum kleinen Chor, findet in diesem akkordisch aufgefächerten Summen zusammen. Am Ende des Stücks, einer Bühnenfassung von Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“, die jetzt im Schauspielhaus der Esslinger Landesbühne uraufgeführt wurde, steht ja der Tod von Hanna, ihr Suizid. Nach 18 Jahren hätte sie endlich das Gefängnis verlassen dürfen.

 

Mirjam Neidharts Bearbeitung und Inszenierung des Bestsellers, der in Deutschland längst Schulpflichtlektüre geworden ist, stellt vorlagengetreu die Erinnerungsarbeit des Ich-Erzählers Michael Berg in den Mittelpunkt – eine ungewöhnliche Art der Vergangenheitsbewältigung im Rahmen eines sexuellen Missbrauchs. Aus der Sicht des Erwachsenen, eines erfolgreichen Rechtsanwalts, blickt er in chronologischer Anordnung zurück auf frühere Ereignisse. In den 1950er Jahren hatte er sich als 15-Jähriger in die mehr als doppelt so alte Trambahnschaffnerin Hanna Schmitz verliebt und einen Sommer lang mit ihr eine zwischen Sex und rituellen Bade- und Waschorgien changierende erotische Beziehung gepflegt. Hätte das Bürgersöhnchen die unnahbare Hanna nicht mit ausgiebigen Vorlesungen bildungskanonischer Literatur erquickt, wäre die Affäre wohl recht wortarm verlaufen. Sein Liebesglück ist ohnehin nur von kurzer Dauer. Erster Schock: Hanna verschwindet. Zweiter Schock: Michael findet als junger Jurastudent in einem Naziprozess die einstige Angebetete auf der Anklagebank wieder: als ehemalige KZ-Aufseherin, die wegen Mordes in 300 Fällen zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt wird.

Geister der Vergangenheit

Neidhart bewegt die sieben Menschen auf der Bühne in einer Choreografie der Distanz. Wer gerade nicht spielt, rollt Mobiliar auf die kahle Bühne, die ansonsten nur mit blauen Neonröhren ausgestattet ist (Bühne und Kostüme: Marion Eisele). Der Text ist prosalastig, Michael (Marcus Michalski) wird zum zweiten Mal zum Vorleser: Er sitzt in korrektem Dreiteiler-Outfit und blitzblanken Schuhen am Tischchen vorm Publikum und liest aus seinen Roman-Memoiren. Aber schon bald treten sie auf die Bühne, die Geister der Vergangenheit, und verselbstständigen sich in kleinen Spielszenen. Requisiten werden immer wieder pantomimisch ersetzt. Michaels Schreiben ist Erinnerungsarbeit, um der Schuld Hannas und seinen damit verbundenen eigenen Schuldgefühlen auf den Grund zu gehen.

Während also der Rechtsanwalt vorliest, wie Hanna Michael badet und wäscht, badet und wäscht Hanna das junge Alter Ego Michaels (Nicolas Schwarzbürger) in der Wanne, die auf die Bühne geschoben wurde. Auch solcherlei Verdopplungen ziehen die erste, tempoarme Hälfte in die Länge. Packender dagegen gestaltet sich die Gerichtsszene, als Opfer, Mittäterinnen und Hanna vernommen werden, obwohl es auch hier meist unaufgeregt zugeht. Gesine Hannemann in der Rolle einer Auschwitz-Überlebenden gelingt das unmittelbar berührend: Emotionen zu zeigen, ohne zu übertreiben, Inneres fein und unaufdringlich, dennoch mit Intensität zutage zu fördern.

Verquere Persönlichkeit

Und Hanna? Kristin Göpfert macht das exzellent: diese mysteriöse Frau authentisch zu verkörpern. Das hört man aus ihrer Stimme in feinen Nuancen heraus, das liest man in ihrer Körpersprache: ihre Gereiztheit, ihre Einsamkeit, diese unerbittliche Härte gegen sich selbst und andere, ihre innere Komplettverkapselung und äußere Uniformierung. Das legt ja auch der Roman nicht bloß: wo sie herkommt, diese psychische Verkrüpplung, die dazu führte, dass Hanna den Tod Hunderter Menschen in Kauf nahm, weil deren Rettung und etwaige Flucht doch ein „Durcheinander“ verursacht hätte, wie sie vor Gericht aussagt. Diese völlig verquere Persönlichkeit, die nichts Falsches getan haben will und sich dann doch lieber schuldig sprechen lässt, um ihren Analphabetismus weiter verbergen zu können, wird sich erst im Gefängnis mit den monströsen Auswirkungen ihres Verhaltens auseinandersetzen. Göpfert verleiht ihr da eine fein erspielte Zerrissenheit: wenn sie während des einzigen Besuchs Michaels innere Abwesenheit und äußere Zugewandtheit gleichzeitig sichtbar machen kann.

Auch wenn Neidharts Inszenierung Längen aufweist: Ihre Stärke beginnt dort, wo die Verfilmung einst scheiterte. Denn das Mitleid für Michael und Hanna hält sich in Esslingen in Grenzen. Das ist gut so und wird der Vorlage mehr als gerecht.