Menschenrechte, Demokratie, Ausgleich der Interessen, globale Zusammenarbeit, Vielfalt der Kulturen: die Ideen und Werte des Westens sind nicht mehr selbstverständlich. Alte und neue Feinde formieren sich. Zum Beispiel: die Bewegung der Identitären.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Eigentlich ist der Begriff unverfänglich. Anders als „Nationalismus“ oder „Rassismus“ verrät „Identität“ nicht gleich auf den ersten Blick, dass es zum Angriff ruft. Es gibt Fächer, die benutzen ihn seit langer Zeit und sicher produktiv, die Soziologen, Psychologen, Mathematiker. Gerade deswegen kann er sich in die politische Debatte ganz unschuldig, weil scheinbar sehr sachlich einschleichen. Er will doch gar nicht verletzen. Er will doch gar nicht verstoßen. Er will doch gar nicht vertilgen. Aber er wird doch wohl einfach mal in Ruhe und Gelassenheit aussprechen dürfen, was gerade von allen Seiten relativiert und infrage gestellt wird.

 

Die Identität des Abendlands. Die Identität des Deutschen. Die Identität der Engländer, der Franzosen, der Tiroler. Die Identität der Geschlechter, des Mannes, der Frau. Die Identität der christlichen Kultur. Die Identität der Hochkultur. Die städtebauliche Identität. Das Wesen der Ehe. Das Wesen der Bildung. Das Wesen des Wasen. Auf welchen Gegenstand, auf welche Gruppe auch immer man den Begriff anwendet, es steckt immer die gleiche Behauptung darin: Da ist ein Kern, und den gibt es an sich und seit ehedem. An ihm festzuhalten, ihn notfalls mit allen Mitteln zu verteidigen, das sei Recht und Pflicht zugleich, ein Akt von Wahrheit und Vernunft. Das sei man schuldig dem reinen Menschenverstand. Sonst werde man noch ganz wirr im Konzert der Moden, der Trends und der Political Correctness.

Ein Hauch von coolem Lebensstil

Ein Teil der aktuellen rechtsgerichteten Gruppen nennen sich gerade „identitär“. Das ist schick, weil es sich einerseits im Gegensatz zu „nationalistisch" oder „rassistisch“ geradezu philosophisch anhört. So lassen sich Teile der dazugehörigen Debatte sogar in Uniseminaren, Feuilletons und Denkermagazinen führen. „Ich lege Wert auf Identität“, das klingt analog zu „ich lebe jetzt vegan“ nach einem neuen coolen Lebensstil. Greift zu viel Wertepluralismus nicht die Wurzeln unserer Gemeinschaft an? Setzt der Ansturm der Einwanderer unsere deutsche Kultur aufs Spiel? Emanzipation ist ja ganz schön, aber gibt es nicht schlicht biologische Unterschiede? „Ich habe Angst, in Deutschland keine Heimat mehr zu haben“, spricht eine junge Frau auf einem Youtube-Video der „Identitären Bewegung“.

Was ist der Irrtum solchen Denkens in Identitäten? Es denkt per se unhistorisch. Es stellt zwar nicht in Abrede, dass sich deutsche Nation, christliches Abendland, Geschlechterrollen oder Kulturstandards im Lauf der Zeit verändert haben. Aber das Reden von Wesensidentitäten geht immer von der Existenz eines Normalzustands aus, einem warm leuchtenden Kern, in dessen Nähe es sicher und kuschelig ist: Deutschland in seinen natürlichen Grenzen – Mann und Frau, wie Gott sie erschuf – das Abendland, christlich – die deutsche Sprache, rein und unverfälscht von Fremdwörtern.

Geschichte ist Vermischung

Aber all das ist völlig imaginär, reines Konstrukt. Man könnte auch schärfer sagen: Es sind Phantome. Es gibt (außer am Meeresufer) keine natürlichen Grenzen, es gibt keine ursprünglichen Geschlechterrollen, es gibt keine Ur-Ehe, und es gibt keine reine, unverfälschte Sprache. Die Geschichte der Menschheit ist von Anfang an Austausch und Vermischung, biologisch und kulturell, friedlich oder unfriedlich. Es ist eben Geschichte. Und dass diese Geschichte einen Sinn verfolgt oder ein Ziel anstrebt, das mag man als religiös affiner Mensch glauben und sein persönliches Leben danach ausrichten. Aber dieser Glaube darf, so die Erkenntnis des Westens, nicht zum Programm der Politik werden. Das ist im Übrigen eine durchaus bittere Erkenntnis, gewonnen aus Jahrhunderten an Weltgeschichte voller Katastrophen im Namen der Ideologien, die ja nichts anderes sind als Religionen und die nie verlegen waren, im Namen ihrer Identitäten schrecklichste Opfer zu verlangen.

In der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten 1776 wurde erstmals jener Anspruch formuliert, der eine der Grundlagen westlichen Denkens zum Ausdruck bringt: das Recht des Einzelnen auf Leben, Freiheit und auf das Streben nach Glück – wohlgemerkt, als individuelles Recht, nicht gebunden an die Zugehörigkeit zu Gruppen oder Zuständen. Das natürliche Recht des Strebens findet seine Grenzen allein im Respekt davor, dass der Nachbar just im Besitz des gleichen Rechts ist. Neu ist an diesem Punkt der Weltgeschichte: Das Glück selbst wird 1776 nicht verkündet, es wird auch nicht definiert. Es wird ein Prozess in Gang gesetzt, ein Weg eröffnet. Der Ausgang ist offen. Fehler sind jederzeit möglich, müssen so schnell wie möglich erkannt und korrigiert werden. Jene Dynamik, die schon immer in menschlicher Geschichte steckte, wird hier zum Prinzip erhoben. Und es wird nach einer Organisation von Gesellschaft, Staat, Wirtschaft und Kultur gesucht, die diesem Prinzip größtmögliche Rechnung trägt.

Die Vielfalt der Ideen

Wir wissen, dass in der Folgezeit die Bürger der USA der Universalität jenes Prinzips, das sie gerade erst verkündet hatten, schnell untreu wurden. Das Recht auf ein individuelles Streben nach Glück verengten sie doch wieder vom allgemeinen zum exklusiven Besitz. Die neue amerikanische Identität war weiß, englischsprachig und protestantisch. Sie schloss etwa die Ureinwohner und die Schwarzen strikt aus. Wie hartnäckig derartiges Identitäts-Abgrenzen im Leben und Denken der Menschen Unheil anrichten kann, zeigt die Lage in den USA just in diesen Tagen.

Viele Lebensmodelle

Doch die Idee ist in der Welt, und all jene, die von ihr ausgeschlossen werden, können sich auf sie berufen. Die Geschichte der freien, westlich orientierten Gesellschaften formuliert ein Programm, in dem an die Stelle weniger Lebensmodelle nach und nach viele treten. Als gerecht gilt, wenn sich die Entscheidungsmöglichkeiten des Individuums vergrößern, und zwar nicht nur in der Theorie, sondern auch in der sozialen Realität. Die Vielfalt der Ideen und der Kulturen wird nicht als Bedrohung empfunden, sondern, sofern die Grundlage gegenseitigen Respekts gegeben ist, gerade als Kraftwerk für gesellschaftliche Produktivität.

Die Möglichkeit und Bereitschaft zur Kooperation gilt nicht als Eingeständnis der eigenen Schwäche, sondern als Suche nach gemeinschaftlicher Entwicklung. Westliches Denken ist prozesshaft und dynamisch. Aus Geschichtlichkeit wächst die Öffnung der Gegenwart. Die Europäische Union braucht gar keine europäische Identität, nach der ja oft so verzweifelt gerufen wird. Sie ist per se antiidentitär.

Barcelona als Angriffsziel

Viele Städte Europas sind in den vergangenen fünfzig Jahren zum Symbol dieser westlichen Werte geworden, historisch gewachsen zu einer Summe sehr unterschiedlicher Kulturen und Lebenskonzepte. Stadtpolitik gelingt immer dann, wenn das Nebeneinander dieser Konzepte zu einem Miteinander aufgebrochen wird. Dann ist Dynamik möglich, dann kann der Westen seine ganze Stärke entfalten.

Die Metropole Barcelona ist eine Stadt, der es in jüngerer Zeit beispielhaft gelungen ist, diese Dynamik der Kulturen für ihre Bewohner, aber auch für viele Besucher erlebbar zu machen. Da ist es auf eine furchtbare Art nur konsequent, dass Vertreter einer anderen Vorstellung von Gesellschaft, einer strikt nach religiös-ideologischen Regeln definierten Identität, diese Stadt als Angriffsziel wählen. Worauf es im Gegenzug ankommt, ist neben der Trauer über das Geschehene eine Vergewisserung der Werte des Westens: Gegen die Kampfidentität des Angreifers setzt er keine eigene Kampfidentität, sondern die Wehrhaftigkeit des Dynamischen. Die Feinde des Westens, egal aus welchem Lager, sind starren Ewigkeiten verpflichtet, dem Stillstand. Die Freunde des Westens glauben an Veränderung, an Zukunft.