Goethes Faust erörtern oder doch lieber den Kommentar schreiben? Das war beim Deutschabi am Mittwoch für manche Prüflinge überhaupt keine Frage. Am Wilhelms-Gymnasium in Stuttgart gingen viele Abiturienten die Sache ganz pragmatisch an.

Für Felix Bartle war schnell klar, welches Thema er im Deutschabi wählen würde. Der 17-jährige Schüler des Wilhelms-Gymnasiums in Stuttgart-Degerloch entschied sich für den Kommentar zum Thema „Sprache und Höflichkeit“. „Es ging mir vor allem um den Aufwand“, erklärt er. Denn tags zuvor habe er sich schon für Geschichte ins Zeug gelegt, am Freitag komme noch Englisch dran, davor habe er Bammel. Und die Alternative zum Kommentar wäre die literarische Erörterung von Goethes Faust gewesen – „mir liegt das Interpretieren nicht so, da war mir der Kommentar lieber“, sagt er.

 

Genug Futter dafür fand er in den zugehörigen Materialien, darunter ein Statement des Bayerischen Lehrerverbands. Seine sechs Seiten gibt Felix schon eine Stunde vor Abgabeschluss ab und hat ein gutes Gefühl. „Ich hab geschrieben, dass es diesen Sprachwandel gibt, aber dass sich die Höflichkeit nicht wandelt, nur ihre Form.“

Genau 1389 Wörter geschrieben – Melih hat nachgezählt

Das sieht sein Mitschüler Melih Birsen anders. Auch der 19-Jährige hat sich für den Kommentar entschieden – „weil es hier eine Beschränkung auf 1500 Wörter gibt“, sagt er. Genau 1389 habe er geschrieben – und reizte zudem ebenfalls nicht die Maximalzeit von fünf dreiviertel Stunden aus – das Kultusministerium hatte zu den regulären fünfeinviertel Stunden noch eine halbe Stunde als Coronabonus zugegeben. Apropos Corona: da seien sie in den Osterferien extra vorsichtig gewesen, um sich nicht anzustecken. „Wir hatten Karten für das Cro-Konzert in Ludwigsburg – und sind nicht hingegangen“, berichten sie. „Aber eine Schulkameradin hat sich’s eingefangen.“ Und konnte nicht mitschreiben. „Die Ärmste.“

Für die Wahl des Kommentars nennt Melih noch einen zweiten Grund: „Das Thema ist gesellschaftskritisch – das liegt mir“, meint der 19-Jährige. „Ich bin zum Schluss gekommen, dass die Jugend ihre Höflichkeit verliert – und den Respekt.“ Das äußere sich dann etwa so, „dass ein Schüler zum Lehrer ‚Hey Alter‘ sagt statt guten Morgen“. Dass diese Entwicklung die Demokratie und den Frieden in Deutschland gefährde, glaube er allerdings nicht: „Nein, so weit wird’s nicht kommen“, sagt Melih.

Für die Zeit nach dem Abi hat er schon klare Pläne: „Erst mal schön reisen.“ Dann jobben, beim Onkel, der Gastronom ist. Und im Herbst mit dem Studium anfangen: Wirtschaftswissenschaften in Hohenheim, danach den Master of Management, anschließend selbstständig werden. „Lust hätte ich auf ein Startup“, sagt Melih.

Die einen feiern gleich, die anderen gehen abends zum Fastenbrechen

Auch Felix weiß, was er will: Urlaub machen mit Freunden, später auch mit den Eltern, in den Sommerferien drei Wochen im Kindersportcamp in Stuttgart als Jugendtrainer arbeiten. „Im Herbst will ich Jura studieren, letztendlich wäre ich gern in einer Wirtschaftskanzlei.“ Aber jetzt, nach dem Deutschabi, erst mal ein bisschen feiern, mit einer Freundin. Melihs Programm sieht etwas anders aus: erst mal schlafen. „Heut Abend geh ich zum Fastenbrechen. Wir haben Ramadan.“ Während der Prüfung habe er nichts zu sich genommen. „Man ist da nicht auf essen und trinken fokussiert“, sagt er.

Für ihre später rauskommenden Mitprüflinge schafft ein Mitschüler, der kein Deutsch schreiben musste, einfach Tatsachen: Er wartet draußen mit einem Kasten Bier. Da ist die Stimmung gleich etwas gelöster. Wie meint ein Prüfling: „Den Kommentar haben alle die gemacht, die keinen Bock hatten zu lernen.“

Paulina Wieland nicht. Sie habe die Gedicht-Interpretation gewählt, erzählt sie. Wie hieß noch gleich der Autor? Nein, eine Autorin: Ingeborg Bachmann. 16 Seiten habe sie abgeliefert, sagt Paulina. „Ich kann da viel reininterpretieren.“ Aber die 18-Jährige räumt auch ein: „Ich les sonst keine Gedichte, ich habe es aber in den Klausuren ganz gut hinbekommen.“

Am Wilhelms-Gymnasium gibt es auch Goethe-Fans

Doch es gibt im Wilhelms-Gymnasium auch Goethe-Fans. Der Faust sei „ein gutes Buch, interessiert mich, es bietet ja sehr viel guten Inhalt“, findet Dorian Denis. Gerade auch die Figur des Faust, der erst der elitäre Wissenschaftler sei, dann der Tatmensch, der seinen Trieben nachgebe. Auch sein Mitprüfling Lukas Votteler kann dem Buch viel abgewinnen – „gerade weil die Gedanken von Goethe nicht so eindeutig sind – da gibt es am meisten Interpretationsspielräume.“ Für Lukas ist aber klar: „Jetzt gehe ich erst mal noch Englisch lernen für Freitag.“

Erleichtert zeigt sich Schulleiter Peter Hoffmann. Erstens, weil der Großkampftag Dienstag mit zig verschiedenen Abifächern geschafft ist. Zweitens, weil am Mittwochmorgen nicht nur der Wecker zu nachtschlafender Zeit tadellos geweckt hat, sondern auch die Schuldrucker einwandfrei funktioniert haben. „Man muss frühzeitig da sein“, so Hoffmann. Beim Deutschabi sogar noch früher als sonst: um 5.45 Uhr – „da müssen wir die Aufgaben selber ausdrucken“.

Die Aufgaben im Deutsch-Abi

Prüflinge
 Seit Montag laufen die Abitur-Prüfungen, am Mittwoch waren die Prüflinge dran, die Deutsch als Leistungskurs gewählt haben. Insgesamt gibt es in Stuttgart an den allgemeinbildenden Gymnasien aktuell 2434 Abiturienten, davon 701 an Privatschulen. An den beruflichen Gymnasien sind 851 Prüflinge aufgerufen, davon 226 aus privaten Schulen.  

Aufgabe 1: Erörterung eines literarischen Textes
Zur „Gretchentragödie“ in Johann Wolfgang Goethes „Faust“ war ein Interpretationsansatz des Literaturwissenschaftlers Michael Jaeger zu erörtern.

Alternativ konnte von den Lehrkräften ausgewählt werden: Erörterung zweier literarischer Texte. In einer vergleichenden Betrachtung von E. T. A. Hoffmanns (1776-1822) „Der goldne Topf“ und Hermann Hesses (1877-1962) „Der Steppenwolf“ war anhand eines Zitates von Rüdiger Safranski zu erörtern, ob die dort gemachte Aussage auf die beiden Figuren Anselmus und Harry Haller zutrifft: „Das Leben verarmt, wenn man sich nichts mehr vorzustellen wagt über das hinaus, was man auch leben zu können glaubt. Und das Leben wird verwüstet, wenn man um jeden Preis, auch den der Zerstörung und Selbstzerstörung, etwas leben will, bloß weil man es sich vorgestellt hat.“

Aus: Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre. München 2007. S. 393. 

Aufgabe 2: Interpretation eines Kurzprosatextes
Interpretation des Kurzprosatextes „Ihr Gesicht“ (2004) von Brigitte Kronauer (1940-2019).

Alternativ konnten die Lehrkräften auswählen: Interpretation eines Gedichts. Interpretation des Gedichts „Die Welt ist weit“ von Ingeborg Bachmann (1926-1973) aus dem Jahr 1952. 

Aufgabe 3: Materialgestütztes Verfassen eines argumentierenden Textes (Kommentar)
Zum Thema „Sprache und Höflichkeit“ war von den Schülerinnen und Schülern auf der Grundlage der vorgelegten Materialien ein Kommentar für die Reihe „Höflichkeit im Wandel – Der Verlust des guten Tons?“ in einer überregionalen Tageszeitung zu verfassen.

Alternativ konnte von den Lehrerinnen und Lehrern auch ausgewählt werden: Analyse und Erörterung eines pragmatischen Textes (Schwerpunkt Erörterung). Anhand eines Textes von Roberto Simanowski (*1963) aus dem Jahr 2017 sollten die Folgen audiovisueller Kommunikation für Sprache und menschliches Selbstverständnis erörtert werden. Vorgelegt wurde den Prüflingen am Mittwoch dazu ein Textauszug aus: Roberto Simanowski: Abfall. Das alternative ABC der neuen Medien. Berlin: Matthes und Seitz 2017, S. 158-163.